Diese Bitte findet sich nur in der Fassung des Vaterunsers bei Mattäus. Mattäus hat sein Evangelium für eine christliche Gemeinde geschrieben und im Blick auf konkrete Menschen die Bitte um das „Kommen des Reiches“ ergänzt. Immer schon gab es die Frage, ob das Leben von einem unbarmherzigen Schicksal bestimmt wird – was die antike Welt glaubte – oder ob die Welt von einem guten Gott geleitet wird. Die einfachere Erklärung für all das Entsetzliche, das in der Welt geschieht, ist die Annahme einer Schicksalsmacht, die den Gang der Dinge einfach bestimmt. Wie aber kann man Naturkatastrophen, Unglücksfälle, Unterdrückung und Völkermord, Krankheit und Behinderung mit der Vorstellung von einem guten, barmherzigen Gott zusammenbringen? Wenn Betroffenen dann noch geraten wird, sich in den Willen Gottes zu ergeben oder Unglück und Leid gar als Strafe Gottes anzusehen, wie das manchmal gerade in frommen Kreisen üblich ist, dann können viele nicht mehr, empfinden die Vaterunserbitte als Provokation.
Schicksal oder Wille Gottes
Es gibt leider eine unselige Verwechslung von Schicksal und Gottes Willen. Niemand wird in Frage stellen, dass es Schicksalsschläge von unsagbarem Ausmaß gibt. Das gab es auch zur Zeit Jesu. Aber nie und nimmer hat er Katastrophen, Kriege und Krankheiten mit Gottes Willen verbunden. Im Gegenteil, sein ganzes Leben ist Zeugnis dafür, dass er im Namen Gottes gekommen ist, dem niedergehaltenen und unterdrückten Leben aufzuhelfen. Jesus gibt keine grundsätzlichen Erklärungen ab, wie sich das Elend dieser Welt und der gute und barmherzige Gott miteinander in Einklang bringen lassen, aber sein Leben und Sterben zeigen, dass Gott ein Gott des Lebens ist, dass Gott nicht am Ende ist, wo wir am Ende sind.
Jesus und der Wille Gottes
Für Jesus ist der Wille Gottes das Um und Auf seines Lebens. Am Jakobsbrunnen sagt er zu seinen Jüngern: „Ich lebe von einer Speise, die ihr nicht kennt. Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat, und sein Werk zu Ende zu führen“ (Joh 4, 32. 43b). Auf die Frage, was dieser Wille sei, gibt es für Jesus nur eine Antwort: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10, 10). „Dienst am Leben“, das ist für Jesus die Kurzformel für den Willen Gottes. Wer sich darauf einlässt, ist ihm „Bruder und Schwester und Mutter“ (Mk 3, 35).Wie aber steht es mit dem Willen Gottes, wenn dieser nicht mehr als dem Leben dienend, sondern als zerstörend erfahren wird? Am Ölberg ist Jesus damit konfrontiert. Lukas schreibt: „(Jesus) betete: Vater, wenn du willst, nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen. Da erschien ihm ein Engel vom Himmel und gab ihm (neue) Kraft. Und er betete in seiner Angst noch inständiger . . .“ (Lk 22, 41–44).
Dem Leben aufhelfen
Kapituliert Jesus in dieser Situation doch vor dem Schicksal und nimmt dies als Gottes Willen an? Niemand weiß, was sich zwischen ihm und Gott, den er auch jetzt noch seinen Vater nannte, abgespielt hat. Sicher jedoch ist, dass er gestärkt durch einen Engel sein Todesschicksal nicht bloß erlitten hat, sondern dass er sein Sterben in einen Dienst am Leben verwandelt hat, indem er Gottes Liebe zum Leben bis in die Abgründe des Todes hineingetragen hat, wodurch der Tod selbst in einen Neubeginn des Lebens verwandelt wurde.Die Frage, wie die Katastrophen dieser Welt und unseres Lebens, wie Schicksalsschläge und der Glaube an einen guten Gott auf einen Nenner zu bringen sind, ist vom Verstand her nicht zu lösen. Aber die Geschichte Jesu bezeugt uns, dass Gottes Wille nicht einfach identisch ist mit dem, was in dieser Welt passiert, sondern dass er alles daransetzt, dass dem Leben aufgeholfen wird, selbst im Tod.
Impuls für die Woche
Ich möchte dem Willen Gottes für mein Leben nachspüren. – Wenn ich in Zeiten der Stille in mich hineinhöre und tiefes Verlangen nach Leben entdecke, spüre ich etwas vom Willen Gottes für mich. – Wenn ich ein Gespür für die Menschen neben mir habe und mich für sie engagiere, dann bin ich in der Spur des Willens Gottes.
Von Menschen, die Gottes Willen für sich entdeckt haben, lernen. – Ich lese und bete Ps 27. Hinter den Bildern von Bedrängern und Feinden kann ich die Widerwärtigkeiten in meinem eigenen Leben sehen. Ich kann aber auch an jene Erfahrungen und Begegnungen denken, die für meinen Weg von entscheidender Bedeutung waren und sind. – Ich versuche Näheres über meine/n Namenspatron/in zu erfahren und wie er/sie den Willen Gottes gesucht und gefunden hat.