In Salzburg, Wels und Kaprun gedachten vergangenes Wochenende Angehörige, Freunde und Retter der Katastrophe auf dem Kitzsteinhorn vor einem Jahr. Die evangelische Superintendentin Luise Müller sprach beim ökumenischen Gottesdienst an der Talstation der Gletscherbahn.
Dennoch bleibe ich stets an dir. Du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich am Ende in Ehren an. (Ps 73, 23 u. 24)
Das waren die Worte aus der Bibel, die mir vor einem Jahr hier in Kaprun angesichts dessen, was da geschehen war, angesichts der Katastrophe durch den Kopf gingen. Ich wollte sie damals aussprechen und konnte es nicht. Ich erinnere mich gut an den improvisierten Gottesdienst, den wir am Sonntagnachmittag oben bei der Talstation gefeiert haben, mehr als Klage war da nicht möglich.
Eigentlich wollte ich dort über das trotzige Vertrauen zu Gott reden – dennoch bleibe ich stets an dir! Doch das Vertrauen, das mich bisher bei allem Schmerz, bei allem Verlust noch getragen hatte, es war unsagbar geworden. Die Worte blieben nichts als eine vage, unaussprechliche Hoffnung auf wiederkehrendes Vertrauen in Gottes Macht, an der ich und wohl auch viele mit mir in dieser Stunde zweifelte. An diesen 11. November 2000 und die Wochen danach werde ich wohl mein Leben lang denken. An den ersten Hinweis, dass ein Sohn von Freunden unter den Opfern sei. Sorge und Angst und dann die bittere Gewissheit in Kaprun. Umarmung der Freundin. Zahlen von Opfern und Gesichter von Angehörigen. Überraschend weitere Bekannte – auch ihr Sohn war mit Freunden in der Bahn. Und in den folgenden Wochen: Tiefe und schmerzliche Enttäuschungen, gute Gespräche, verborgene Zeichen von Freundschaft, Trost, Abschiedsrituale, zaghafte, kleine Pflänzchen der Hoffnung auf wiederkommende Gottesbegegnung.
Und die Angehörigen: letzte Gewissheit durch Freigabe des Leichnams; stille, unaussprechliche Trauer, aber auch schlecht heilende Verletzungen, geschlagen durch fehlende Wahrhaftigkeit, durch Lüge, durch Angst, durch Sorge vor Vertuschung und der Frage nach dem Warum, die im Lauf der Zeit immer mehr zur Frage nach der Schuld wurde. Im Laufe des Jahres dann die unterschiedlichsten Versuche, das, was sich uns in jenen Tagen unauslöschlich ins Gedächtnis geschrieben hatte, zu verarbeiten. Umzugehen mit dem scheinbar Unbewältigbaren. Herrzuwerden der Verbitterung, der Leere, dem Schmerz. Loslassen. Dieses Loslassen kann gelingen. Ich habe es erfahren, dass das Gottvertrauen wieder wächst, ich habe gelernt, es zaghaft wieder zu buchstabieren und auch Gott zu sagen: Gott, du wirst mich nicht los. Ich bleibe in deiner Nähe. Dennoch bleibe ich stets an dir. Du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich am Ende in Ehren an. Der Ton wurde im Lauf der Zeit anders. Vom trotzigen, schmerzlichen dennoch hin zum hoffnungsvollen: du hältst mich …, das im Rückblick zu einer tiefen Erfahrung geworden war.
Was stehen bleibt, ist die Frage nach dem Warum, die Frage nach der Ursache, die Frage nach der Schuld. Inzwischen gibt es erste Antworten. Verändern sie? Helfen sie heilen? Ich wünsche es allen, deren Leben um einen lieben Menschen ärmer geworden ist. Ich wünsche es den Helfern, den Menschen hier in Kaprun. Denen, die in welcher Weise auch immer Verantwortung tragen. Was wir brauchen: den Mut zur Wahrhaftigkeit, den Mut, Fehler auch Fehler zu nennen und Schuld, wo sie existiert, auch einzugestehen. Nicht voreilig, nicht indem wir Sündenböcke in die Wüste schicken, sondern mit aller Ernsthaftigkeit, zu der wir fähig sind.Carl Friedrich von Weizsäcker hat gesagt: „Man kann in dieser Welt, wie sie ist, nur leben, wenn man zutiefst daran glaubt, dass sie nicht so bleibt, sondern werden wird, wie sie sein soll.“
Das ist für mich die Hoffnung dieses Tages: Dass Gott unsere Hände – wer immer wir sind: Verantwortliche, Schuldige, Beschuldigte, Sündenböcke, Leidtragende und Trauernde – dass Gott unsere Hände nicht loslassen möge. Dass er uns festhält, damit wir das Vergangene loslassen können, dass sein Rat unser Leben leitet, damit wir wissen, wo wir hingehen, was wir tun oder lassen sollen, und den Weg finden, der uns Zukunft eröffnet. Möge dies unser Gebet sein: Dennoch bleibe ich stets an dir. Du hältst mich bei meiner rechten Hand, du leitest mich nach deinem Rat und nimmst mich am Ende in Ehren an. Amen