Maria ist keine Ersatzgöttin. Aber sie hat Gott zur Welt gebracht und bringt ihn den Menschen nahe – auch in einer scheinbar gottlosen Welt.
Sensible Nonnen haben es durchgesetzt. Mitten in der Unterführung am Bahnhof in Ludwigshafen, wo tagtäglich Abertausende von Passanten vorbeieilen, wurde in einer kahlen Wand eine Statue der Muttergottes mit dem Kind auf dem Arm aufgestellt. Den Raum dahinter hat die Katholische Kirche gemietet und dort auch eine „Passanten-Seelsorge-Stelle“ eingerichtet. Mit den Nonnen als Seelsorgerinnen. Hin und wieder verliert sich schon jemand in den Raum, bekommt dort auch einen Tee und eine Plaudermöglichkeit. Der große Renner ist die Stelle nicht. Wohl aber die Statue. Tagtäglich brennen dort Hunderte von Kerzen. Aufgestellt von Menschen, denen – aller Wahrscheinlichkeit nach – die Kirche fremder ist als der Mond. Die Wand brennt förmlich. Sie zieht auch jene in ihren Bann, die sonst achtlos an der Statue vorbeirennen würden.
Ein Anker im Meer
„Ich bin ein schlechter Mensch“, keucht eine sterbende Frau zur Krankenschwester. Und legt gleich noch nach: „Mit Gott habe ich wenig am Hut! Aber die Muttergottes, an die kann ich mich noch erinnern.“ Und die Krankenschwester? Sie nimmt sich einen Stuhl, setzt sich hin und fängt an, den Rosenkranz zu beten. Die Alte schläft ein. Aufgewacht, fragt sie: „Bin ich schon im Himmel?“ „Sehe ich aus wie ein Engel?“, gibt die resolute Schwester zurück. „Schon fast wie ein Engel!“, lautet die Antwort. Gelöst stirbt die Frau eine Stunde später. Als junger, kritischer Theologe habe ich mich gegen die Frömmigkeit ereifert, die den „zornigen Gott Vater“ durch die „Mutter der Barmherzigkeit“ überblendete. Mit der Korrektur des Gottesbildes glaubten wir auch, diese Marienfrömmigkeit überflüssig gemacht zu haben. Und werden nun eines Besseren belehrt. Millionen von brennenden Kerzen vor Marienbildern im entkirchlichten Europa zeugen von der Kraft der Gottesmutter. Nicht unbedingt immer bei den engagierten Gottgläubigen. Nein! Mögen die Gescheiten lachen und die Dogmatiker den Kopf schütteln. Mag man den Fundamentalismusverdacht beschwören oder die Sache als Kitsch banalisieren – die Marienfrömmigkeit scheint sich selbst zu regulieren.
Ein Anker in Meer der scheinbaren Gottlosigkeit? Jene Aufklärer, die im Geheimnis der Gottesmutter bloß die Sehnsucht nach einer weiblichen Gottheit sehen, sind genauso steril, wie die entgeistigten Konsumindividuen der Gegenwart, die denselben Effekt beim Grab der Prinzessin Diana festmachen möchten. Nein! Von glamourösen Göttinnen hat unsere Welt genug. Das merken am meisten jene Menschen, die um den letzten Atemzug ringen – im Krankenhaus oder in der Anonymität einer Großstadt. Gerade sie werden auf den Wert einer „ohnmächtigen Hilfe“ sensibilisiert. In den Situationen, wo keine andere Hilfe mehr möglich ist. Wo Rebellion nichts mehr bringt, und auch nicht das großkopfige Reden. Wo nur noch Zynismus oder Verbitterung die Alternativen sind. Dort wird ein Mensch, der in seinem Wesen auf andere „durchlässig“ ist, zum letzen Anker.
Sie hat Gott geerdet
Als Mutter Gottes ist Maria zum Inbegriff solcher Durchlässigkeit geworden. Durchlässigkeit auf Gott hin. Weil sie den Sohn in ihrem Schoß trug, hat sie Gott unter uns Menschen stillschweigend „geerdet“. Und bringt ihn auch all jenen nahe, die um Gott normalerweise einen großen Bogen machen. Weil sie den toten Sohn auf ihren Schoß bettete und an ihren Tränen zu ersticken drohte, „erdete“ sie menschliche Ängste und Leiden in der göttlichen Liebe. Deswegen wird sie auch als Fürbitterin angerufen. Nein! Sie ist keine Miterlöserin. Aber als Mutter Gottes, gerade mit dem göttlichen Sohn in ihren Armen, bleibt sie doch ein Anker im Meer einer scheinbar gottlosen Welt.
Das Zitat
Bei der Betrachtung des Geheimnisses der Menschwerdung kann man den Sohn Gottes nicht von der Mutter trennen. Deshalb verkündet die Kirche, dass der Sohn „durch das Wirken des Heiligen Geistes im Schoß der Jungfrau Maria Fleisch angenommen hat und Mensch geworden ist“. Als sich allmählich vor ihren Augen und in ihrem Geiste die messianische Sendung des Sohnes klärte, öffnete sie selbst sich als Mutter immer mehr jener „Neuheit“ der Mutterschaft an der Seite des Sohnes. Im glaubenden Hinhören wurde ihr die Selbstoffenbarung des lebendigen Gottes immer offenkundiger.
Papst Johannes Paul II. ( Aus: Maria, Stern des Morgens. Styria, 2000)