Die Straße ist ein guter Ort für Exerzitien, sagt der deutsche Jesuit Christian Herwartz. Ein Gespräch mit der KirchenZeitung über Gottesbegegnungen, verborgene Sehnsüchte und Sicherheiten, die aufgegeben werden sollten.
Ausgabe: 2016/27
05.07.2016 - Paul Stütz
Sie begleiten Straßenexerzitien, damit Leute Gotteserfahrungen machen können. Was bedeutet das?
Christian Herwartz: Es geht darum, bei den Exerzitien in eine Offenheit zu treten. Die eigene Person kennenzulernen und wie sie die Umwelt wahrnimmt und welche Botschaften daraus entstehen, denen man selbst folgen will. Diesen Ansatz haben alle Religionen gemeinsam.
Wie kann man diese Offenheit schaffen?
Herwartz: Die Offenheit ist ja etwas ganz Flüchtiges. Die Offenheit ist ja im Jetzt, und über das springen wir in der Regel hinweg. Aber darum geht es ja. Um das Jetzt. Im Himmel ist immer Jetzt und den können wir nicht leicht begreifen und deshalb können wir immer nur Bruchstücke kriegen. Meistens merkt man gar nicht, was im Jetzt ist, sondern erst, wenn man im Hinterher darüber spricht. Die Offenheit nehme ich aus dem Lukasevangelium, dort steht im zehnten Kapitel, dass Jesus seine Jünger rausgeschickt hat auf die Straße.
Daraus leiten Sie auch Ihre Regeln ab?
Herwartz: So wie Jesus den Jüngern gebe ich den Teilnehmer/innen bei den Exerzitien folgende Regeln mit: Nehmt kein Futter für die Wölfe mit, das heißt nehmt kein Geld mit und kauft auch kein Sicherheitskonzept, lasst den Rucksack weg, lasst die Schuhe weg. Der letzte Ratschlag heißt: Grüßt nicht unterwegs. Das ist nicht unhöflich gemeint, sondern es geht darum, aus dem Müssen herauszutreten. Denn damit segmentieren wir die Wirklichkeit und nehmen sie nicht ganz wahr.
Die Straßenexerzitien bewirken oft tiefgreifende Begegnungen, zum Beispiel mit Obdachlosen. Lernt man da Einfühlungsvermögen?
Herwartz: Das höchste ist für mich, wenn die Übenden merken, dass die Leute auf der Straße obdachlose Geschwister sind. Aber mit dem Lernen bin ich ganz vorsichtig, weil ich das nicht Verschulen will. Da gibt es nicht so ein Ziel, sondern eben ein In-Sich-Gehen und sich von dem Motor, der in mir ist, ansprechen lassen.
Was können die Exerzitien für den eigenen Glauben bedeuten?
Herwartz: Jeder hat einen Teil, wo er glaubt oder nicht glaubt. Man wird staunen, wenn man merkt, dass man zu einem guten Teil Buddhist oder Atheist ist. Es geht darum, keine Angst zu haben, darauf genau zu schauen, wie man wirklich ist und so Gott zu suchen.Viele, die bei den Straßenexerzitien mitmachen, sind religiös, auch wenn sie das noch gar nicht wissen.
Sind Ihre Exerzitien auf der Straße unbequemer, als sich in ein Kloster zurückzuziehen?
Herwartz: Ich habe für Vergleiche überhaupt nichts übrig, weil sie der Anfang von Unglauben sind. Man guckt nicht mehr hin, was ist. Es gibt nicht das Schönere oder das Schlechtere.
Mit welchen Gebeten kann man auf die Straße gehen?
Herwartz: Ich frage am Anfang der Exerzitien, worüber ärgerst du dich? Hinter dem Ärger steht eine Sehnsucht, was anders sein sollte.
Wenn der Weg zu der Sehnsucht gefunden wurde, frage ich: Wer hat dir die Sehnsucht geschenkt? Das kann zu einer Gebetsbeziehung führen. Mit diesem Gebet kann man zum Beispiel auf die Straße gehen.
Kann man bei den Straßenexerzitien eine Lösung für eigene Lebensprobleme finden?
Herwartz: Wenn man zu sich kommt, kann man auch Dinge lösen, die nicht passen, und in die Freude kommen. Der Punkt ist aber, dass Exerzitien nicht das Leben sind, Wo ich handle, das ist ein anderer Ort. Exerzitien sind eine Suchphase, da kann ich auf etwas stoßen, das mich prägt. Viele haben Angst, wenn sie „Straßenexerzitien“ hören, dass sie auf der Straße predigen müssen. Der Punkt ist aber, den Auferstandenen zu entdecken auf der Straße. Wo wartet der auf dich? Wo wird er dir begegnen? Es ist immer aufregend, vor Gott zu stehen.
Geld sollte man Ihrer Meinung nach weglassen bei den Exerzitien. Wie halten Sie es als Ordensmann selbst mit dem Geld?
Herwartz: Umsonst haben wir es bekommen, umsonst geben wir es weiter. Ich mache die Begleitung bei den Exerzitien kostenlos. Das Geld soll aus den Reflexionen rausgelassen werden.
„Kein Mensch ist illegal“ steht auf Ihrem T-Shirt. Sie sind ein politisch denkender Mensch?
Herwartz: Das ist meine Basis. Jeder Mensch ist in Würde von Gott erschaffen, das ist mein Glaubenszeugnis. Klar muss man politisch sein, wir sind ja politische Menschen. Ich habe gerade einen Prozess gewonnen vor dem deutschen Bundesgericht. Uns sollte verboten werden, eine Mahnwache vor einer Abschiebehaft zu machen.
Fast 40 Jahre lang stand die Tür Ihrer Wohnungsgemeinschaft in Berlin-Kreuzberg jedem offen. Jetzt sind Sie aus der WG ausgezogen. Was war der Grund und was planen Sie für Ihren weiteren Lebensweg?
Herwartz: Ich habe gemerkt, ich muss da weg. Wenn die Neuen die WG weitermachen wollen, darf da nicht ich als Opa drinnen sitzen und alles besser wissen. Deswegen bin ich gegangen. Beim unterwegs sein kann einem schon einfallen, was man machen will. Ich warte auf die Stimme, die mir sagt, wie es weitergeht, was die Zukunft bringt. Ich nutze die Zeit, Exerzitien zu begleiten und selbst welche zu machen. So mogle ich mich ein wenig durch.
Zur Sache: Straßenexerzitien in Steyr
Vergangene Woche machte der Jesuitenpater Christian Herwartz mit seinen Straßenexerzitien Station in Steyr. Drei Tage lang begleitete Herwartz sieben Jugendliche auf ihrer Gottessuche. Die Exerzitien fanden im Rahmen von sichTbar, einem Projekt der Katholischen Jugend Oberösterreich statt. Das Modell der Straßenexerzitien hat Christian Herwartz durch sein Leben und Wirken in der Jesuiten-Wohngemeinschaft in Berlin entwickelt. Menschen hatten ihn um Exerzitienbegleitung gebeten. Das Wort Exerzitien (Latein: üben) wird für geistliche Übungen benutzt. Das Wort Straße steht für die dazu notwendige Offenheit. Denn auf der Straße könne man jedem begegnen, so Christian Herwartz. Die Jesuiten-Wohngemeinschaft steht im Prinzip jedem offen, der an die Tür klopft, auch Obdachlosen und Drogenabhängigen. So kam Herwartz mit vielen Menschen und ihren Nöten in Kontakt. Herwartz, Jahrgang 1943, ist erst vor wenigen Wochen aus der WG ausgezogen. Er hat lange als Arbeiterpriester in Frankreich und Deutschland gelebt. Herwartz arbeitete als Lkw-Fahrer, Möbelpacker, Dreher in Fabriken. Über seine Straßenexerzitien hat Herwartz ein Buch geschrieben: „Auf nackten Sohlen. Exerzitien auf der Straße“. Das Buch regt dazu an, die Stadt und die Menschen mit den Augen Gottes wahrzunehmen und neue Erfahrungen zu machen.