Vor 15 Jahren erschütterten die Terroranschläge vom 11. September Amerika und die Welt. Die evangelische Theologin Susanne Heine geht auf Hintergründe und Folgen ein.
Ausgabe: 2016/36, Terroranschläge, IS, Heine, Hintergründe, Religionen
06.09.2016
- Susanne Huber
Wie hat sich Ihrer Meinung nach seit 9/11 die Wahrnehmung auf den Islam in der Gesellschaft in Amerika und in der Welt verändert?
Susanne Heine: Grundlegend, denn der verheerende Anschlag 2001 rückte den Terrorismus im Westen in den Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung. Die politischen Folgen: US-Präsident Bush erklärte den Krieg gegen den Terror als „Kreuzzug“, Einmarsch von NATO-Truppen in Afghanistan, um das Taliban-Regime auszuhebeln und den Drahtzieher Osama bin Laden zu fassen. Die Taliban sind heute wieder erstarkt und das Land ist zerrissen. Zwei Jahre später kam dann der US-Einmarsch ohne UN-Mandat in den Irak, den Bush einen Teil der „Achse des Bösen“ nannte. Auch der Irak ist ein zerstörter Staat. Alles das bildete den Nährboden für den IS. Die Antwort waren Anschläge in Europa, zuerst in Madrid 2004. Die Wurzeln liegen noch tiefer, im Ersten Weltkrieg, als die Alliierten die Provinzen des besiegten Osmanischen Reiches willkürlich nach ihren wirtschaftlichen Interessen aufteilten. Auch davor hatten die islamischen Länder durch die Kolonialisierung die Ohnmacht gegenüber westlicher Übermacht erlebt. Der „Westen“ wurde zum kollektiven Feindbild.
Welche Fragen haben nach den Anschlägen in den Religionen an Bedeutung gewonnen?
Susanne Heine: Etwa die Frage nach Entstehung und Profil des Fundamentalismus, den es in allen Religionen gibt. Dazu gehört das Gefühl der Bedrohung durch eine feindliche Außenwelt; eine Zelt-Mentalität: die im Zelt sind die Guten, die außerhalb die Bösen; rückwärtsgewandte Utopien einer Heilszeit, für den Islam das Medina des 7. Jahrhunderts; oder die Auslese von Passagen aus Koran und Sunna, die mit den Zielen der dschihadistischen Subkultur zusammenpassen. Daraus hat der IS eine eigene Theologie entwickelt. Hier kommen zwei Momente zusammen: eine religiöse Motivation und politische Ziele.
„Islam ist nicht gleich Terrorismus“ hat Papst Franziskus bei seiner Polenreise Ende Juli gesagt. Wie sehen Sie das?
Susanne Heine: Der Islam ist eine Religion der Gewalt – der Islam hat mit Gewalt nichts zu tun. Beides stimmt so nicht. Denn hinter den Terrorakten steht eine hoch religiöse Motivation: Gewalt als Gottesdienst (Hans Kippenberg). Gewaltbezogene Textpassagen in Koran und Sunna auszublenden und uninterpretiert zu lassen, würde bedeuten, einer fundamentalistischen Lesart Vorschub zu leisten, die vergangene Ereignisse als Handlungsanweisung für heute nimmt. Dem steht auch im Islam die Tradition einer Auslegung gegenüber, die den geschichtlichen Kontext heranzieht und damit die Zeitdifferenz beachtet. Aber Fundamentalisten, wie die Salafisten, lehnen die Gelehrtentradition ab. Und diese stehen im Licht der Öffentlichkeit, nicht die Muslime, die ihren Glauben alltäglich leben. Um den Islam in seinen wesentlichen Ausgestaltungen zu verstehen, ist es notwendig, sich damit zu beschäftigen und Vorurteile korrigieren zu lassen.
Was waren die gravierendsten Folgen von 9/11?
Susanne Heine: Politisch hat die Reaktion auf 9/11 die weitere Destabilisierung des Nahen und Mittleren Ostens bewirkt, damit den Terrorismus erneut angeheizt und den Kampf für einen IS hervorgerufen. Angeheizt wurde auch die christliche mittelalterliche Polemik gegen den Islam, denkt man an „Pegida“ oder rechtspopulistische Parteien in ganz Europa. Dadurch entsteht ein Teufelskreis wechselseitiger Herabsetzungen, der unterbrochen werden sollte. Neu ist die Attraktion, die der IS auf europäische Jugendliche ausübt, besonders durch seine mediale Propaganda. Gegenüber sozialer Benachteiligung und Isolation oder Diskriminierungserfahrungen, selbst erlebte oder durch Identifikation nachvollzogene, verheißt der IS den Gewinn an Bedeutung in einer tragenden Gemeinschaft.
Der IS verbreitet Angst und Schrecken. Was könnten Antworten auf Terror und Gewalt sein?
Susanne Heine: Der Schrecken ist ja die Absicht, ein kühler Kopf umso wichtiger. Verbrechen gehören vor Gerichte. Die Gesamtsituation ist aber dermaßen verfahren, dass sich nicht so schnell etwas ändern wird. Dazu bräuchte es vor allem uneigennützige Politiker. Es gibt aber neue Initiativen: An der Uni Wien läuft ein Projekt in Zusammenarbeit mit der weltweit größten regierungsunabhängigen muslimischen Organisation in Indonesien „Nahdlatul Ulama“ (Wiedererwachen der Gelehrten), das die Theologie der Gewalt des IS untersucht, widerlegt und über Videos im Internet und durch Jugendarbeiter verbreitet. Damit soll der IS-Propaganda der Wind aus den Segeln genommen werden. Im eigenen Umfeld halte ich mich trotz allem, was passiert, an das Gebot Jesu in der Bergpredigt, Frieden zu stiften, wo es geht.