Der alte Brauch ist wenig bekannt: Jedem Jerusalem-Pilger und jeder Pilgerin ist es gestattet, eine Nacht in der Grabeskirche zu verbringen. KIZ-Redakteur Josef Wallner ließ sich eine Nacht lang einschließen und berichtet von seinen Erfahrungen.
Man braucht nicht viel, wenn man eine Nacht in der Grabeskirche bleiben will. Ich packe Bibel, Reiseführer, eine Flasche Wasser und einige Müsliriegel in meinen Rucksack. Die Taschenlampe werde ich nicht brauchen, da die ganze Nacht über an den heiligen Stätten Öllampen und elektrische Lichter brennen. Eine Viertelstunde bevor das einzige Tor geschlossen wird, setze ich mich in jenen Teil der Grabeskirche, den die Franziskanerbrüder verwalten. Nun wird es hektisch. Zwei israelische Polizisten beginnen ihren Rundgang durch das Gotteshaus, leuchten mit ihren Stablampen in die vielen dunklen Kapellen und führen die verbliebenen, oft hartnäckigen Kirchenbesucher hinaus. Mit einem Kopfnicken gibt ein Franziskaner den Ordnungshütern zu erkennen, dass dieser Pilger da zu ihm gehört. Zwei Tage vorher hat mich ein bekannter Ordensmann angemeldet. Jede der drei Kirchen, von denen Mönche in der Grabeskirche wohnen, hat das Recht, rund fünfzehn Pilger die Nacht über in der Kirche zu belassen. Als ich mit vier Franziskaner-Patres zum feierlichen Verschließen des einzigen Tores der Grabeskirche gehe, merke ich, dass ich heute Nacht der einzige Pilger sein werde. Weder die armenischen noch die griechisch-orthodoxen Mönche haben Gäste. Kaum ist die Tür – von außen – versperrt, ziehen sich die Mönche in ihre kleinen Klöster zurück, die nur von der Kirche aus erreichbar sind. Wir sind eingeschlossen.
Grabesruhe. Es ist wenige Minuten nach 19 Uhr. Ein armenischer Priester füllt über dem Eingang zum Heiligen Grab Öl in den Lämpchen nach, doch bald verschwindet auch er und ich bleibe allein in der Kirche zurück. Ganz allein. Ich sitze auf einer Steinbank bei jener Stelle, die der Platz der „Drei Marien“ genannt wird. Der Tradition nach sollen von da aus die Frauen auf das Kreuz Jesu geschaut haben. Ich schaue auf die Balustrade, hinter der sich der Golgota-Altar verbirgt. Dann drehe ich mich ein wenig und ich sehe in die mächtige Kuppel, die sich über dem kleinen Haus (Ädikula) ausspannt, das als Grab Jesu verehrt wird. Von der ursprünglichen Felshöhle ist nichts mehr übrig, das heutige Grab ist ein Marmorbau aus dem 19. Jahrhundert. Ich gehe die wenigen Schritte zur Ädikula, bücke mich, um in die Kapelle der Engel zu gelangen, und komme in einen zweimal zwei Meter großen Raum: die Grabkammer. Dort knie ich nieder, stütze die Hände auf die steinerne Grabbank. Ich lege meine Bibel vor mich und lese im Matthäusevangelium: „Fürchtet euch nicht! Ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Er ist nicht hier, er wurde auferweckt!“ Dann bleibe ich in Stille und bete den Rosenkranz. Die Griechen nennen die Kirche nicht Grabeskirche, sondern „Anastasis“ – was einfach nur „Auferstehung“ heißt.
Jesus nachgehen. Danach mache ich mich auf den Weg durch das Gotteshaus, das eher einer spirituellen Landschaft als einer Kirche gleicht. In der einen Hand die Bibel, in der anderen einen Kirchenführer. Die erste Station ist Golgotha. Enge steile Treppen führen auf eine Plattform, die über dem Felsen der Kreuzigung errichtet wurde. Kein Blitzen von Fotoapparaten, keine Schlange von Pilgern im Rücken, die auch den Felsen berühren wollen. In der Ruhe der Nacht werden die Texte der Evangelien lebendig und ich habe Zeit, genau auf die Bilder zu schauen und deren Botschaft zu entschlüsseln. In der unter Golgota liegenden Adamskapelle ist ein Teil nackter Felsen vom Kreuzigungshügel sichtbar. Die Tradition stellt die Verbindung zwischen Adam und Christus her. Christus, der neue Adam, hat die Sünde des alten Adam, der ganzen Menschheit, getilgt.
Generationen von Pilgern. Ich gehe in die Helenakapelle. Die Wände sind mit abertausenden Kreuzen übersät, die Pilger seit Jahrhunderten hier eingeritzt haben. Die Zeichen machen bewusst, wie sehr auch wir Heutigen in eine lange Reihe von Menschen stehen, die den auferstandenen Christus als Hoffnung für ihr Leben bekennen.
Die Wächterin des Grabes. Nach zweieinhalb Stunden bin ich wieder zurück beim Ausgangspunkt, wo die drei Marien standen. Ich setze mich nieder und greife zu den Müsliriegeln. Da lässt mich ein leises Miau aufhorchen. Eine Katze schleicht auf das Heilige Grab zu. Sie umkreist einmal die Ädikula und verschwindet dann wieder im Dunkel der Kirche. Die Mönche sind froh um diese – es ist nicht die einzige – Mitbewohnerin, um so der Mäuse- und Rattenplage Herr zu werden.
Ohne ein Wort zu verstehen. Normalerweise wird die Kirche um vier Uhr früh geöffnet. Da die griechisch-orthodoxe Kirche ein Fest feiert, macht der Türhüter gegen halb zwölf auf. Herein kommt ein Gruppe griechischer Pilger, die am Mitternachtsgottesdienst auf Golgota teilnehmen. Gesang erfüllt die Kirche. Ich gehe um 23.45 Uhr in die Erscheinungskapelle der Franziskaner und schließe mich ihrem Stundengebet an. Gegen halb eins ziehen sich die Brüder zu einer zweiten Nachtruhe zurück, die nur etwas mehr als drei Stunden dauert. Gegen drei Uhr früh folge ich – in Respektabstand – sechs armenischen Mönchen. Als sie mich sehen, freuen sie sich und holen mich in ihren kleinen Halbkreis. So feiere ich eineinhalb Stunden Gottesdienst mit, ohne auch nur ein einziges Wort zu verstehen.
Sanctus und Muezzin. Kaum ist der letzte Gesang der Armenier verstummt, zieht ein Franziskaner an einer Glocke. Da fünf christliche Kirchen die Grabeskirche nutzen, herrscht eine strenge Zeiteinteilung. Um Streitigkeiten zu vermeiden, wurde im 19. Jahrhundert ein Regelwerk geschaffen, das bis heute striktest einhalten wird. Schlag 4.30 Uhr fängt die erste Messfeier der Franziskaner am Heiligen Grab an. Als ich danach die Kirche verlasse, empfängt mich der Ruf des Muezzins, der zum Morgengebet ruft.
Hintergrund
Die Tür und der Schlüssel
Seit Salhadin die Kreuzfahrer aus Jerusalem vertrieben hat, liegt das Besitzrecht der einzigen Eingangstür in die Grabeskirche bei zwei muslimischen Familien. Ein Angestellter der Familien öffnet und schließt täglich zu den festgesetzten Zeiten von außen das Tor. Um zum Schloss zu gelangen, muss er eine Leiter besteigen. Die Leiter wird nach dem Abschließen durch ein Türchen in der Tür in die Grabeskirche gegeben und im Innern aufbewahrt. Die Franziskanerbrüder und die armenischen Mönche können die Kirche nicht verlassen, die griechisch-orthodoxen Mönche haben einen Notausgang, über dessen Existenz man aber nicht spricht.