Um über eine Überarbeitung und Neugestaltung der Leseordnung nachzudenken, können die bisherigen Beobachtungen zum Markus-Lesejahr und zur Leseordnung allgemein Ansatzpunkte sein.
Angelehnt an ortsübliche Praxis. Dem Wort Gottes der Heiligen Schrift in der Feier des Gottesdienstes intensiver zu begegnen, diesem Anliegen dient die Leseordnung. Eine Abstimmung auf den Rhythmus und die ortsübliche Praxis des Gottesdienstbesuches legt sich daher nahe. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass diese Verhaltensweisen nicht überall auf der Welt gleich sind. Das Wort der Schrift, ins Leben gesprochen, steht in einer Wechselbeziehung zur Lebenssituation der Menschen. Schon in biblischer Zeit können wir dies gut feststellen: Christusverkündigung in Zeiten und an Orten der Verfolgung klingt anders als in einer bürgerlichen, in die staatliche und soziale Ordnung gut eingefügten Gesellschaft. Bei einer Neugestaltung der Leseordnung ist daher auch über ihre Regionalisierung nachzudenken. Menschen in Lateinamerika oder in Afrika werden von anderen biblischen Texten „mitten ins Herz“ getroffen (vgl. Apg 2, 37) als z. B. Christinnen und Christen in (Mittel-)Europa.
Fortlaufende Lesungen. Im Zuge einer Auffächerung der Leseordnung wäre das Konzept einer fortlaufenden Lesung einzelner biblischer Schriften zu überprüfen und in seinem Wert einer auf inhaltliche Schwerpunkte aufbauenden Verkündigung gegenüberzustellen. Erstere, also die fortlaufende Lesung, erfüllt ihren Sinn nur dann, wenn tatsächlichen von einer regelmäßigen Mitfeier des Gottesdienstes ausgegangen werden kann; andernfalls bleibt sie in ihrer Absicht fragmentarisch.Auf die Christusverkündigung der Evangelien bezogen, könnten als inhaltliche Schwerpunkte z. B. Textabschnitte aus folgenden Bereichen gelten: Wortverkündigung Jesu in Spruchform und in Gleichnissen, Vollmachtstaten Jesu (so genannte „Wunder“), Lehr- und Streitgespräche, Zusammenfassungen vom Wort und vom Handeln Jesu, Berufungs- und Nachfolgeerzählungen, Lebensregeln . . . Um dem Anliegen des Konzils („die Schatzkammer der Bibel soll weiter aufgetan werden“, Dokument über die Liturgie n. 51) Rechnung zu tragen, ist dann eine Variation dieser verschiedenen Texteinheiten in einem geordneten zeitlichen Ablauf vorzusehen.
Ein Lesejahr für Johannes. In diesem Zusammenhang ist die Stellung des Johannesevangeliums in den Lesejahren neu zu überdenken – vorausgesetzt, die einzelnen Evangelien bilden weiterhin je für sich einen prägenden Schwerpunkt der Leseordnung. Das Johannesevangelium sollte in diesem Fall nicht nur in geprägten Zeiten sowie an fünf Sonntagen im Markusjahr gelesen werden, sondern die Grundlage für einen eigenen Lesezyklus bilden. Dass dies eine besondere Herausforderung an die Predigenden darstellen kann, ist nicht zu verschweigen; es ist jedoch kein Gegenargument.
Neuer Rhythmus. Diese verschiedenen Anregungen machen eine weitere Überlegung unerlässlich: Der Rhythmus der Leseordnung muss neu überdacht werden. Vermutlich legt es sich nahe, die bisherige Abfolge von drei Lesejahren zu erweitern. Bleiben die Evangelien das entscheidende Ordnungselement, ist an einen vierjährigen Zyklus zu denken. Soll das Prinzip der jeweils umfassenden Verkündigung eines ganzen Evangeliums Geltung behalten, legt sich eine Abfolge von zweimal vier Jahren nahe, also Mt/Mk/Lk/Joh jeweils Teil I, sodann Mt/Mk/Lk/Joh Teil II – insgesamt also in eine Abfolge von acht Jahren. Es liegt auf der Hand, dass sich solche Überlegungen komplizierter gestalten, wenn nicht nur an die Evangelien, sondern auch an die anderen biblischen Lesungen im Gottesdienst gedacht wird.
Bewusste Entscheidungen sind hier zu fällen, und es müssen Vorrangigkeiten festgelegt werden. Vieles spricht eben dafür, dass dies auf regionaler Ebene geordnet wird. Ein von vorneherein vorgesehener Überprüfungsprozess nach etwa 50 Jahren (das entspricht ungefähr zwei Generationen) könnte gewähr-leisten, dass die biblische Verkündigung im Gottesdienst der seelsorglichen Situation entspricht. Dass uns die Heilige Schrift im Gottesdienst näher gebracht wird, darum geht es ja, und das wird uns in der nächsten und letzten Folge nochmals beschäftigen.
Dr. Walter Kirchschläger, Professor für Auslegung des Neuen Testaments, Theol. Fakultät, Universität Luzern
Lesen Sie kommende Woche hier: Das Markusjahr – Was wir daraus lernen können.
In diesem LINK finden Sie zur Serie Anregungen zur Bibelarbeit bzw. das Markus-Evangelium, farblich markiert in den gelesenen und nichtgelesenen Texten im Lesejahr B.