2000 Jahre Paulus: Persönliche Briefe an den Völkerapostel (3)
Ausgabe: 2009/27, 2000 Jahre Paulus, persönliche Briefe, Völkerapostel, Ingrid Penner, Bibelwerk, Advent- und Fastenzeit, theologische Erwachsenenbildung, St. Paul vor den Mauern,
01.07.2009
- Ingrid Penner
Rom, Sankt Paul vor den Mauern (San Paolo fuori le Mura)
Ja, ich nenne dich Bruder, weil du das für mich im Laufe der Zeit geworden bist. Intensiv haben mich die Inhalte deiner Briefe beschäftigt und dabei bist du mir immer vertrauter geworden. Manches kann ich nicht verstehen und manche deiner Aussagen kann ich nicht teilen, aber vieles fasziniert mich. Zuallererst aber bewundere ich deinen Einsatz und Eifer. Einige deiner Wege bin ich schon selbst nachgefahren – bequem im klimatisierten Reisebus! Dabei wurden mir die Dimensionen deines Unterwegsseins bewusst. Du schreibst selbst an die Korinther, welche Strapazen und Gefahren du auf diesen Wegen erfahren hast. Aber für die Sache Jesu war dir kein Weg zu anstrengend.
Die Gemeinden. Was mich am meisten anspricht in deinen Briefen, ist deine Umsicht mit den Gemeinden, für die du dich verantwortlich gefühlt hast. Der Aufbau „deiner“ Gemeinden und die Auferbauung der Menschen darin lagen dir am Herzen. Dabei hast du immer versucht, maßgeschneiderte Lösungen für die speziellen Probleme und Anliegen der doch sehr verschiedenen Gemeinden zu finden. Du hast keine allgemein gültigen Regeln aufgestellt und keine „bischöflichen Hirtenbriefe“ geschrieben, sondern du hast dich redlich bemüht, die konkrete Situation vor Ort, die du ja kanntest, in deine Lösungsansätze und Anweisungen einzubeziehen.
Die Menschen. Durch deine pastorale Klugheit konntest du viele Menschen dort abholen, wo sie gerade standen und sie auf deinem Weg mitnehmen. Im 1. Korintherbrief hast du geschrieben, dass du allen alles geworden bist, um auf jeden Fall einige zu retten (vgl. 1 Kor 9, 22). Das ist dir in deiner Christusverbundenheit gelungen.
Die Gaben. Dein Gemeindemodell vom Leib und den Gliedern löst in mir Wehmut aus, wenn ich sehe, wohin sich die Kirche danach entwickelt hat. Nicht die Gleichwertigkeit jedes Mitgliedes und die je einmalige Gabe, die jeder und jede zu geben hat, sind bis heute vorrangig im Blick. Leider haben nicht selten Hierarchie und Machtstrukturen den Sieg davongetragen. Gerne hätte ich dich persönlich kennen gelernt, mit dir diskutiert, Erfahrungen ausgetauscht und dich in deiner Arbeit unterstützt.
Die Frauen. Viele Frauen und Männer sind ja der Ansicht, dass du ein Frauenfeind gewesen wärst. Ich kann das deinen Briefen keineswegs entnehmen, denn ich begegne in ihnen immer wieder Aussagen über und Zusagen an Frauen, aus denen hohe Wertschätzung spricht. Zudem hast du Frauen wie Männer selbstverständlich für alle Dienste eingesetzt, für die sie das Charisma hatten – ganz im Sinne dessen, was du den Galatern geschrieben hast: „Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ‚einer’ in Christus Jesus.“ (Gal 3, 28). Nicht die Herkunft, der Stand oder das Geschlecht zählte für die Aufgabe, sondern die Fähigkeiten.
Die Hoffnung. Wie viel könnte auch in diesem Punkt die Kirche heute von dir lernen! Zahlreiche pastorale Probleme könnten ganz neu überdacht werden – bezogen auf die Situation unserer Zeit und auf die je unterschiedlichen Bedürfnisse der Kirche vor Ort. Aber ich gebe den Glauben daran, dass der Geist auch in unserer Zeit wirksam ist, und die Hoffnung, dass Strukturen sich ändern können, nicht auf. Darin stärken und ermutigen mich deine Briefe! Es grüßt dich dankbar deine Schwester und Mitarbeiterin Ingrid
- Briefe an die Gemeinden von heute (für Pfarrblätter) finden Sie auf der Paulusseite der Homepage: www.dioezese-linz.at/bibel/
Briefe an Paulus
Ingrid Penner ist Mitarbeiterin des Bibelwerkes Linz (u. a. \"aufatmen\" in der Advent- und Fastenzeit) und in der theologischen Erwachsenenbildung tätig.