Hildegard von Bingen hat als Theologin, Predigerin, Ratgeberin und Heilkundige außergewöhnliche Wege beschritten und Maßstäbe gesetzt. Im Blick auf Gott hatte sie auch keine Scheu, damit als Frau „aus der Rolle“ zu fallen. Das gilt auch für ihr Wirken als Komponistin, die über 70 „Geistliche Gesänge“ geschaffen hat.
Komponieren, so war man noch vor wenigen Jahrzehnten überzeugt, ist eine Aufgabe für Männer. Und wenn eine Frau wie Fanny Mendelssohn sich dennoch einmal ins Reich der Tonsetzer vorwagte, wurden ihre Werke unter männlichem Pseudonym veröffentlicht. Hildegard gehört zu den Komponistinnen, deren Werke dazu beitrugen, anderen komponierenden Frauen die ihnen zustehende Anerkennung ihrer schöpferischen Leistung zu verschaffen.
Dilettantisch oder genial? Der Weg dorthin aber war mit Vorurteilen gepflastert, denen zunächst auch die Antiphonen, Responsorien, Hymnen und Sequenzen der Äbtissin ausgesetzt waren. In der musikbezogenen Hildegard-Forschung des 20. Jahrhunderts überwiegen lange Zeit zwei entgegengesetzte Standpunkte. Die einen halten Hildegard für genial, die anderen für dilettantisch. Diejenigen, die ihre Gesänge gering achteten, schätzten oft den Gregorianischen Choral hoch, dem Hildegards Werke in vielem ähneln, von dem sie sich aber in einigen Punkten auch unterscheiden. Ein Beispiel: Im Mittelalter wurden statt unserer heutigen Dur- und Moll- Tonarten die Kirchentonarten verwendet. Jede von ihnen gibt es in einer höheren und einer tieferen Ausführung. Die Gregorianischen Gesänge bewegen sich in der Regel im Rahmen einer Tonart. Hildegards Lieder haben Melodien, die höher hinauf und tiefer hinunterreichen als die des Chorals. Bei ihr sind fast immer die hohe und tiefe Ausführung einer Kirchentonart zusammengefasst. Vergleicht man ihre Kompositionen aber mit anderen, die im 12. Jahrhundert entstanden sind, wird klar: Das haben alle so gemacht. Es war weder etwas Besonderes noch war es dilettantisch.
Musik für die Liturgie? Auch die Verwendung ihrer Gesänge als Musik in der Liturgie wurde von vielen für unwahrscheinlich gehalten. Die Zweifler kamen aus zwei ganz verschiedenen Lagern. Die einen hielten es für undenkbar, dass man im Mittelalter die Kompositionen einer Frau öffentlich aufführte. Allenfalls seien die Lieder von den Nonnen ihres Klosters im privaten Bereich gesungen worden. Andere Musikwissenschaftler gehen davon aus, dass es dem Ansehen Hildegards schaden würde, wenn man annähme, ihre Gesänge seien „nur“ während der Stundengebete und der Eucharistiefeiern erklungen. Ernstzunehmende Kompositionen müssten frei von liturgischen Bindungen sein. Tatsächlich gibt es aber im Briefwechsel Hildegards, in ihrer Lebensbeschreibung und in ihren Werken viele Stellen, an denen beschrieben wird, dass die Feier des Gottesdienstes Hildegard zu ihren Kompositionen inspirierte. Dafür waren sie gemacht: Zum Lobe Gottes.
Der Chor der Engel. Was Musik für Hildegard bedeutete und warum sie für die Liturgie komponierte, hängt mit ihrer Überzeugung zusammen, dass die Menschen zum Lob Gottes berufen sind. Hildegard stellt dies am Beispiel der Chöre der Engel eindrucksvoll dar. Ursprünglich, so sagt sie, gab es zehn Engelchöre, die Gott umkreisten, sein Lob sangen und so Anteil an seinem Licht hatten. Dann aber kam ein Chorleiter namens Luzifer, was übersetzt „Lichtträger“ bedeutet, zu der Überzeugung, dass er und sein Chor ihre Schönheit und ihren Glanz sich selbst und nicht Gott verdankten. Deshalb wandten sie sich von Gott ab. In diesem Moment fiel alles Lichte und Leichte von ihnen ab und sie stürzten wie ein Klumpen Blei in die Hölle. Seitdem fehlt ein Chor im Konzert der Engel. Ihn zu bilden ist die Aufgabe der Menschen. Deshalb ist das Lob Gottes ihre ureigenste Berufung, und es gibt für eine Komponistin keine schönere und wichtigere Aufgabe, als Gesänge für den Gottesdienst zu komponieren.
Das „neue geistliche Lied“. In vielen unserer Pfarren werden heute „neue geistliche Lieder“ gesungen. Es gibt dazu sogar „Gotteslob“-Anhänge. Die Gesänge Hildegards wurden damals auch als neue geistliche Lieder wahrgenommen und fanden Anklang weit über ihr Kloster hinaus. Sie komponierte deshalb auch im Auftrag anderer Konvente und schuf neue Lieder zu Ehren der dort verehrten Heiligen. Auch das Kloster Disibodenberg und ihre Neugründung Rupertsberg wurden mit Neukompositionen bedacht. Thematisch folgen ihre Gesänge den spirituellen Trends des 12. Jahrhunderts. Deshalb gibt es viele Gesänge zu Ehren der hl. Ursula und ihrer Gefährtinnen. Deren Gebeine glaubte man in jener Zeit in Köln aufgefunden zu haben, und eine junge Visionärin, Elisabeth von Schönau, sorgte mit ihren Schauungen für die Verbreitung der guten Nachricht. Die größte Gruppe von Gesängen für eine Heilige sind an Maria gerichtet. Sie wurde im 12. Jahrhundert allgemein und auch von Hildegard persönlich besonders verehrt. Bis heute inspirieren ihre Lieder Musiker/innen und Komponist/innen.
Leben mit Hildegard
Eines der Bilder, die Hildegard findet, um ihren Verkündigungsauftrag zu beschreiben, ist das von der Posaune. Sie erzählt davon zu einer Zeit, in der sie schon weithin bekannt ist und sagt: „Ich bin wie eine Posaune. Ich töne, aber ein anderer bläst in mich hinein.“ Ein andermal nennt sie sich einen schwachen Posaunenton des lebendigen Lichtes. Von dieser Sichtweise können wir lernen. So wie jeder Heilige seine Farbe zum reinen, weißen, klaren Licht Gottes beisteuert, so ist jeder und jede Einzelne eine unverzichtbare Melodie in der großen Symphonie der Schöpfung. Nehmt Gottes Melodie in euch auf. Wer glaubt, ist nie allein. Wer die Lieder Hildegards richtig verstehen will, kann das nur auf dem Weg des Glaubens tun. Als ich vor Jahren meine Doktorarbeit über die Gesänge schrieb, war dieser Zugang noch umstritten. Aber es zeigt sich, dass viele Fragen nur auf diesem Wege beantwortet werden können. Erst im Wissen, was das Gotteslob für eine Benediktinerin bedeutet, eröffnet sich das Ganze.
Hildegard Wörtlich
O funkelnder Edelstein Du heiterer Schmuck der Sonne, der in dich hineingeschenkt wurde, springender Quell aus dem Herzen des Vaters, er ist sein einzigartiges Wort, durch das er schuf der Welt erste Materie, die Eva durcheinanderbrachte.
Dieses Wort hat dir, Vater, den Menschen bereitet, und wegen ihm bist du jene leuchtende Materie, durch die dieses selbe Wort alle Tugenden verströmte, damit alle Geschöpfe aus der ursprünglichen Materie hervorgingen.
Aus seinem heillosen Fall richtest du den Menschen auf. Denn Gott ist Mensch geworden In der einzig geliebten und gesegneten Jungfrau.
Aus „Vier Antiphonen An Maria“ von Hildegard von Bingen