Die Konstitution „über die göttliche Offenbarung“ ist ein Kernstück des II. Vatikanischen Konzils. Was die Kirche unter „Offenbarung“ versteht und wie diese heute zu lesen ist – darum ging es dabei.
Ausgabe: 2012/23, Konzil, Kirche, Offenbarung, Liturgie, Dr Bernhard Körner, Glaube
06.06.2012
Die Konstitution beginnt mit einer grundsätzlichen Klärung, was Offenbarung ist. Bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts wurde Offenbarung vor allem als Information Gottes verstanden. Demgegenüber sieht das II. Vatikanum die Offenbarung, gestützt auf die Heilige Schrift, als ein Offenbarungsgeschehen. Das heißt: Die Offenbarung ergeht in Ereignissen, die Taten und Worte (z. B. das Verhalten und die Predigt Jesu) umfassen; durch die Offenbarung offenbart Gott nicht in erster Linie irgendwelche Wahrheiten, sondern vor allem sich selbst; Ziel der Offenbarung ist nicht allein Wissen, sondern vor allem die Gemeinschaft mit Gott.
Schrift und Tradition. Weil die Offenbarung für alle Generationen der Kirche wichtig ist, muss sie in der Geschichte weitergegeben werden. Dazu braucht es einen umfassenden Zusammenhang von Instanzen, die den Glauben verbürgen. Diesen Zusammenhang nennt das Konzil die Weitergabe (transmissio) der Offenbarung. Sie umfasst die Heilige Schrift, Werke der Heiligen und der Theo- logen, Dokumente des kirchlichen Lehramtes, die Liturgie und die Praxis der Kirche. Man kann also sagen, dass die Weitergabe der Offenbarung sowohl durch die Heilige Schrift (scriptura) als auch die Überlieferung (traditio) außerhalb der Heiligen Schrift erfolgt. So hält auch das Konzil im Unterschied zur protestantischen Tradition, in der nur die Hl. Schrift als Quelle der Offenbarung gilt, fest: Die Heilige Schrift und die Heilige Überlieferung sollen beide mit „gleicher Liebe und Achtung angenommen und verehrt“ werden – sie bezeugen Gottes Offenbarung. Schrift und Tradition sind aber nicht zwei „gleichwertige“ Quellen. Das II. Vatikanum gibt der Hl. Schrift den ersten Platz und sieht die Tradition nicht als Ergänzung der Heiligen Schrift, sondern als ihre Auslegung durch die Jahrhunderte. Über die authentische Interpretation der Heiligen Schrift und der Tradition entscheidet nach Meinung des Konzils das kirchliche Lehramt, das, in seiner Art, Teil des „Offen-barungsprozesses“ ist. Buch des Glaubens. Auffallend ist, wie sehr das Konzil die herausragende Bedeutung der Heiligen Schrift innerhalb des Offenbarungsgeschehens herausarbeitet. Vier der sechs Kapitel der Konstitution befassen sich nur mit ihr. Natürlich kann man die Bibel auch wie andere literarische Werke analysieren – damit aber wird man nicht der Tatsache gerecht, dass sie Gottes Wort in Menschenwort ist. Im Unterschied zu einer rein literarischen Sicht geht eine theologische Betrachtungsweise von der Glaubensüberzeugung aus, dass die Heilige Schrift auf einzigartige Weise das Wort Gottes bezeugt, ja – wie die Offenbarungskonstitution sagt – Gottes Wort „ist“, das im Glauben der ersten Zeugen und der Glaubensgemeinschaft der Kirche angenommen und von inspirierten Verfassern zur Sprache gebracht worden ist. Sie ist die erste und einzigartige Quelle des christlichen Glaubens. Die Bibel ist kein historisches oder naturwissenschaftliches „Lehrbuch“, vielmehr kann in ihr der Mensch entdecken, wer Gott ist und dass er uns anspricht – zu unserem Heil.