Wodurch kann man Frauen mehr Einfluss in der Kirchenleitung ermöglichen? Welche Rolle sollen die Laien haben? Antworten darauf findet Kirchenhistoriker Hubert Wolf in der Vergangenheit, wie er im Interview betont.
Ausgabe: 2015/8, Wolf, Reformkonzepte, Krypta
17.02.2015 - Interview: Heinz Niederleitner
Ihr Buch ist ein Appell, bei der Suche nach Reformkonzepten die Kirchengeschichte zu befragen. Kam das bisher zu kurz? Wolf: Ja, Reformdiskussionen werden immer etwas kurzatmig geführt. Ich halte es aber für wichtig, den ganzen Tisch der Tradition zu decken und sich klarzumachen, welch unterschiedliche Modelle es in der Geschichte gab, die über längere oder kürzere Zeit ganz legitim praktiziert worden sind. Eine Reform in einer traditionsorientierten Einrichtung wie der katholischen Kirche funktioniert nur im Rahmen der Tradition, nicht gegen sie.
Sie sprechen im Buch zum Beispiel die Praxis der Bischofsbestellungen an. Dass der Papst – mit lokalen Ausnahmerechten – die Bischöfe einsetzt, kommt uns als althergebracht vor. Wolf: Dabei konnte sich dieser päpstliche Anspruch erst im 20. Jahrhundert mit dem Kirchenrecht von 1917 durchsetzen – wobei es gelungen ist, diese Praxis als die fast einzige Möglichkeit zur Bischofsbestellung darzustellen. Wir haben in der Geschichte aber unterschiedliche Modelle, die man meiner Meinung nach kombinieren sollte. Papst Leo der Große hat beispielsweise gesagt: „Wer allen vorstehen soll, muss auch von allen gewählt werden.“ Es ist wichtig, unterschiedliche Konzepte zu kennen. Natürlich hat der Papst ein gewichtiges Wort, aber wenn der Bischof den Geruch der Herde annehmen soll, muss er von der Herde anerkannt sein.
Heißt das, Sie plädieren dafür, dass der Blick in die Kirchengeschichte verengtes Denken weiten soll? Wolf: Das Christentum ist eine geschichtliche Religion und „katholisch“ bedeutet „allumfassend“. Der Strom der Tradition, der sich von Jesus Christus ausgehend durch die Geschichte zieht, ist breit. Als Kirchenhistoriker habe ich Probleme damit, wenn jemand versucht, diesen Strom zu begradigen und in Betonwände hineinzuzwängen. Manche Arme des Traditionsstromes können vielleicht heute nicht mehr hilfreich sein. Aber man sollte sie zumindest kennen.
Apropos „breite Tradition“: Wenn sich der Papst auf Franz von Assisi beruft, hat er ja zwei Anknüpfungspunkte: Den echten Franziskus, der in seiner Christusnachfolge ein Asket war. Und den „Franziskus light“, wie ihn die Päpste in die Kirche integriert haben. Wo sehen Sie Papst Franziskus? Wolf: Ich sehe ihn in einer Spannung zwischen dem Papstamt, das immer prunkvoll in Szene gesetzt wurde, und der Berufung auf den Armen von Assisi, der Hierarchien skeptisch gegenüberstand. Auf der einen Seite steht eine Kirche mit starker Spitze – die man auch braucht: „Wenn es den Papst nicht gäbe, müsste man ihn erfinden“, hat Napoleon gesagt. Auf der anderen Seite steht die Berufung: Vergiss die Armen nicht! Diese Spannung auszuhalten, macht das Katholische aus, auch wenn das schwierig ist. Ich denke, dass das Franziskanische im Papst eine kritisch-widerständige Kraft entfaltet. Aber es ist jetzt auch wichtig, dass die Reformen starten. Und vielleicht kann die Kirchengeschichte Papst Franziskus dabei unterstützen.
Bei der Idee, Laien und eventuell auch Frauen zu Kardinälen zu machen, hat der Papst aber schon abgewunken – obwohl es Laienkardinäle bis ins 19. Jahrhundert gab. Wolf: Der Papst hat gesagt, Frauen sollen nicht klerikalisiert werden. In meinem Buch stelle ich aber den Fall der Äbtissinnen von Las Huelgas (Spanien) vor, die durch Jahrhunderte quasi-bischöfliche Vollmachten in den Bereichen Verwaltung und Jurisdiktion hatten. Offenbar braucht es für diese Vollmachten, anders als für sakramentale Handlungen, keine Weihe. Erst das Zweite Vatikanum hat die Jurisdiktionsvollmacht zwingend an die Weihe gebunden: Es wollte die Bischöfe gegenüber dem Papst stärken – mit der unbeabsichtigten Folge, dass alle Nicht-Bischöfe Einfluss eingebüßt haben. Wenn man sich daran erinnert, dass auch Laien quasi-bischöfliche Vollmacht hatten, eröffnet das viele Möglichkeiten für Männer und Frauen in der Kirche, ohne über das Thema Frauenweihe nachdenken zu müssen. Es hätte dann auch nichts mehr mit Klerikalisierung zu tun, weil man als Kardinal keine Weihe mehr bräuchte.
Ein aktuelles Reformthema ist angesichts der Bischofssynode im Herbst der Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen. Wie kann die Geschichte da helfen? Wolf: Im Buch habe ich das ausgelassen, denn das ist zunächst eine Frage zwischen Sakramenten- und Moraltheologie. Mich würde aber interessieren, wie sich der Ehebegriff entwickelt hat. Ist jede Ehe zwischen zwei Getauften wirklich immer sofort ein Sakrament? Auch der Sakramentenbegriff hat ja eine Entwicklung durchlaufen. Wenn man aus der Geschichte lernen will, kann man jedoch auf die Traditionen der Ostkirche schauen, wo es ja aus Gründen der Barmherzigkeit eine zweite Möglichkeit für eine Eheschließung gibt. Insofern gibt es dort eine andere Tradition und man muss fragen: Kann sie in unsere westliche Tradition eingebracht werden? Sie beschreiben in ihrem Buch, wie die Kirchengeschichte an Einfluss verlor. Ist sie manchen „gefährlich“, weil sie kritisches Denken und die Erinnerung an Alternativen fördert? Wolf: Wer die Wandelbarkeit der Kirche ablehnt, dem muss Kirchengeschichte gefährlich vorkommen. Das Thema geht aber tiefer: In den vergangenen Jahrzehnten haben wir in der Kirchengeschichte verstärkt den Austausch mit der nichtkirchlichen Geschichtswissenschaft gesucht. Das war sehr fruchtbar, hat aber auch dazu geführt, dass wir teilweise vergessen haben, dass wir auch ein theologisches Fach sind und Geschichte ein wichtiger theologischer Erkenntnisort ist. Dieses dynamische Element muss in der Theologie stärker werden.
Besteht nicht die Gefahr, dass mit dem Hinweis auf geschichtliche Entwicklungen auch gegen Reformideen argumentiert wird? Ein Beispiel: Zwar wird eingeräumt, dass es weibliche Diakone in der Frühzeit der Kirche gab, aber dann heißt es mitunter, das sei mit dem späteren Konzept der drei Weihestufen (Diakon – Priester – Bischof) nicht mehr vereinbar. Wolf: Kirchliche Veränderungsprozesse sind schon im Neuen Testament erkennbar. Paulus redet in einem anderen Kontext als Jesus Christus: Er muss die Botschaft Christi für ein hellenistisches Umfeld transformieren. Es ist selbstverständlich, dass sich manche Strukturen und Riten ändern müssen, weil die Einbettung des Christentums in die jeweilige Situation sonst nicht funktioniert. Deshalb wäre es verkürzt zu sagen, Reform funktioniert nur, indem man nach hinten schaut. Meine Idee ist aber, dass ein Anpassungsprozess erfolgreicher ist, wenn er einen Ankerpunkt in der Tradition hat. Als man zum Beispiel vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil darüber nachdachte, die Heilige Schrift in der Liturgie aufzuwerten, bezog man sich auf den Luthergegner Thomas Cajetan. Damit wurde es möglich, die Heilige Schrift in der Liturgie zu stärken, ohne dass einem vorgeworfen wurde, das sei lutherisch. Man hat aus der Tradition einen Kronzeugen genommen, um dadurch eine Möglichkeit zu einer Veränderung zu öffnen.
Überraschendes aus der Kirchengeschichte
Wer hat in der Kirche das letzte Wort? Der Papst, lautete die dogmatisierte Antwort des Ersten Vatikanums im 19. Jahrhundert. Das Konzil von Konstanz vor 600 Jahren gab angesichts von drei konkurrierenden Päpsten eine andere Antwort: Selbst ein Papst solle dem Konzil gehorchen, wurde dort am 6. April 1415 verkündet. Es sind Fälle wie dieser, mit denen Hubert Wolf in „Krypta“ zeigt, dass die Kirche einer Entwicklung unterworfen ist, die auch viel heute Vergessenes hervorbrachte: Laienkardinäle, starke Domkapitel, Bischofswahlen, Vollmachten ohne Weihe und immer wieder auch Reformen. Wolf will den Schatz der Tradition für die aktuelle Reformdiskussion nutzbar machen. Und ganz nebenbei räumt er mit Mythen auf, wie zum Beispiel die Behauptung sehr konservativer Kreise, dass die tridentinische Messe die „Messe aller Zeiten“ sei. nie