Jean Ziegler wird nicht müde, gegen die soziale Ungleichheit anzukämpfen, deren Folgen Hunger, Armut und Elend für so viele Menschen auf unserer Erde sind. Es herrscht eine „kannibalische Weltordnung, die wir stürzen müssen“, fordert der Soziologe in seinem neuen Werk.
Ausgabe: 2015/31, Ziegler, Hunger, Armut, Elend, FAO, Weltbevölkerung, UNO
28.07.2015 - Susanne Huber
„Ändere die Welt!“, so heißt Ihr neues Buch. Ist diese Aufforderung an jeden Einzelnen von uns gerichtet? Jean Ziegler: Haargenau. Der Raubtierkapitalismus, der die Weltordnung heute beherrscht, funktioniert mit Konkurrenz, Unterdrückung, Ausbeutung und Gewalt. Dieses Konkurrenzdenken muss ersetzt werden durch – die Christen sagen: Liebe. Der Sinn des Lebens erwächst daraus, dass ich in der freien Beziehung zu einem anderen Menschen das bekomme, was ich nicht habe. Eine soziale Ordnung, die nicht auf wechselseitigen Beziehungen und wechselseitigen Ergänzungen beruht, ist zum Scheitern verurteilt. Deshalb hat jeder Einzelne von uns Verantwortung zu tragen, die Welt zu ändern. Der revolutionärste Text dazu steht im Matthäusevangelium.
Sie meinen das Gleichnis „Vom Weltgericht“? Jean Ziegler: Ja, Kapitel 25. Christus sagt: „Ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen.“ Und die Gerechten haben das überhaupt nicht verstanden und fragen: „Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und auf- genommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben? Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?“ Und Christus hat geantwortet: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Das ist das Prinzip der sozialen Weltordnung, das wir heute mit den Gütern, die wir produzieren, mit dem Überschuss, den wir haben, etablieren müssten.
Aber das ist schwierig umzusetzen. Wieso? Jean Ziegler: Weil wir die Entfremdung im Kopf haben, die unser Solidaritätsbewusstsein verschüttet hat. Wir leben unter der Weltdiktatur der Oligarchien, einer herrschenden Schicht des globalisierten Finanzkapitals. Laut Armutsbericht der Hilfsorganisation Oxfam besitzt ein Prozent der Weltbevölkerung mehr an Vermögen, als die restlichen 99 Prozent der verbleibenden Menschheit. Das ist eine unglaubliche soziale Ungleichheit. Nach dem Welternährungsbericht der UN-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft FAO verhungert alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren. Knapp eine Milliarde Menschen sind permanent schwerstens unterernährt.
Viele machen dafür die Überbevölkerung verantwortlich ... Jean Ziegler: Im selben FAO-Bericht wird dargelegt, dass die Weltlandwirtschaft bei dem heutigen entwickelten Stand der Technik problemlos 12 Milliarden Menschen ernähren könnte, also fast das Doppelte der Weltbevölkerung. Es gibt heute zum ersten Mal in der Geschichte der Menschen keinen objektiven Mangel mehr und es ist möglich, allen 7,2 Milliarden Menschen auf dieser Erde ein materiell genügsames Leben zu verschaffen, wenn wir die sozialen Strukturen ändern würden. Hunger ist menschengemacht. Ein Kind, das jetzt an Hunger stirbt, wird ermordet. Und diese kannibalische Weltordnung müssen wir stürzen.
Aber wie? Jean Ziegler: Österreich zum Beispiel ist meiner Ansicht nach die lebendigste Demokratie dieses Kontinents. In einer Demokratie gibt es keine Ohnmacht. Die Verfassung gibt uns alle Waffen in die Hand, um diese kannibalische Weltordnung zu stürzen. Sie ist kein Naturgesetz und kann von Menschen um- gestoßen werden. Ich gebe ein Beispiel: Einer der Hauptgründe für den Hunger auf unserem Planeten, der vor Reichtum überquillt – das ist der absolute Skandal unserer Zeit und findet statt in eisiger Normalität – ist die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel wie Mais, Getreide und Reis. Sie decken etwa 75 Prozent des Weltkonsums ab. Ich habe genug Prozesse am Hals gehabt und sage es ganz deutlich: Die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel ist absolut legal; aber sie hat verheerende Folgen.
Welche sind das konkret? Jean Ziegler: Sie wirft einerseits unglaubliche Profite ab für Hedgefonds und für Großbanken. Der Weltmarktpreis auf Mais z. B. ist in den letzten fünf Jahren um 38,1 Prozent gestiegen, der für Reis um 32,8 Prozent und der Preis für die Tonne Weizen hat sich verdoppelt. Wenn nun der Weltmarktpreis auf Grundnahrungsmittel wegen der Spekulanten explodiert, dann sterben andererseits Millionen Kinder mehr – in den Slums der Welt, wo 1,1 Milliarden Menschen leben, wo Mütter mit ganz wenig Geld ihre tägliche Nahrung für ihre Familie kaufen müssen. Kürzlich war ich in einem Elendsquartier in der peruanischen Hauptstadt Lima. Bei Sonnenuntergang hat sich vor dem Reisdepot eine Schlange von Müttern formiert. Bis Mitternacht bin ich dort geblieben, ich habe nicht eine einzige Mutter gesehen, die auch nur ein halbes Kilo Reis gekauft hätte. Leisten konnten sie sich jeweils nur ein paar Körner in kleinen Plastikbechern. Das ist die Nahrung der Kinder für den Tag. Die gehen zugrunde. In Österreich, Deutschland, Frankreich, das sind alles Demokratien, könnte morgen früh, wenn die öffentliche Meinung der Menschen erwachen würde, das Parlament gezwungen werden, das Börsengesetz zu ändern. Ein anderes Beispiel wäre, sich für die Totalentschuldung der 50 ärmsten Länder der Welt einzusetzen. Alles, was es dazu braucht, ist der Aufstand des Gewissens.
Was die UN-Millenniumsentwicklungsziele betrifft, so war ja ein Ziel, die Zahl der Hungernden bis 2015 zu halbieren. Jetzt haben wir 2015, aber dieses Ziel ist leider nicht erreicht worden ... Jean Ziegler: In keiner Weise, weil die UNO total unfähig ist, diese Weltdiktatur des Finanzkapitals zu brechen. Laut Weltbankstatistik haben letztes Jahr die 500 größten transkontinentalen Privatgesellschaften aller Sparten, darunter der größte Nahrungsmittelkonzern Nestlé oder Unilever, 52,8 Prozent des Wertes des Weltbruttosozialprodukts kontrolliert, d. h. mehr als die Hälfte aller in einem Jahr auf der Welt produzierten Waren, Kapitale, Dienstleistungen, Patente, Reichtümer. Und diese transkontinentalen Gesellschaften ent- schwinden jeglicher gewerkschaftlicher, staatlicher Sozialkontrolle. Sie funktionieren nach dem Prinzip der Profitmaximierung. Das ist das höchste Gesetz im kapitalistischen Dschungel. Es geht um ein System der strukturellen Gewalt, das gebrochen werden muss.
In Ihrem Buch stellen Sie sich die Frage, wie nützlich Ihr berufliches Wirken bisher war. Wie ist Ihre Antwort darauf? Jean Ziegler: Ich war acht Jahre Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Nahrung, jetzt bin ich Vizepräsident des beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrats. In dieser Zeit ist der Hunger gestiegen. Aber das Bewusstsein, dass Hunger ein Verbrechen ist und menschengemacht, ist auch gestiegen. Es entsteht weltweit eine Zivilgesellschaft, das sind soziale Bewegungen, die Widerstand leistet für Gerechtigkeit. Die tatsächliche gelebte Gerechtigkeit ist rückläufig; aber die Eschatologie, um ein biblisches Wort zu nehmen, die einforderbare Gerechtigkeit, das, was das Gewissen, das Bewusstsein als gerecht erkennt, das macht Fortschritte. Und da ist die Hoffnung.
- Buch-Tipp: „Ändere die Welt! Warum wir die kannibalische Weltordnung stürzen müssen“ von Jean Ziegler. C. Bertelsmann Verlag, München 2015. Euro 20,60.