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Franz, der Icherzähler in Norbert Gstreins neuem Roman, ist 15 und Internatsschüler, als er auf Anordnung des Vaters als Hochzeitsfotograf im familieneigenen Hotel in einem Tiroler Bergdorf zu jobben beginnt. Schnell entwickelt er eine gewisse Meisterschaft bei der Inszenierung seiner Bilder, die für alle Paare die gleiche ist – und gut für das Geschäft in der von allen so genannten „Hochzeitsfabrik“. Jahre später, Franz hat inzwischen zwei
Studienrichtungen ausprobiert und fotografiert nur noch aushilfsweise, kommt eine Braut unter ungeklärten Umständen zu Tode, und Franz gerät in den Verdacht, er könnte etwas damit zu tun haben.
Zudem wird bekannt, dass er bei einer anderen Hochzeit eine 13-jährige gegen deren Willen geküsst hat. Er flieht nach Wyoming, USA, und verdingt sich in einem einsamen Dorf in den Rocky Mountains als Skilehrer. Dort lernt er unter anderem einen aus Tschechien stammenden Raketenphysiker kennen, der jeden Winter bei ihm Unterricht nimmt und sich mit Franz anfreundet. Auch diese Geschichte nimmt eine tragische Wendung. Wieder stehen Missbrauchsvorwürfe im Raum, diesmal gegen den Professor, und diesmal gibt es einen eindeutigen Selbstmord. Ein Unfall beendet das Skilehrerdasein und Franz muss nach etwa zehn Jahren nach Tirol zurück.
„Als ich jung war“ ist trotz Krimiplot das Gegenteil von einem Krimi. Nichts wird aufgeklärt. Nie kommt die „ganze Wahrheit“ ans Licht. Fast immer könnte es auch anders gewesen sein. Es ist eher die Geschichte eines vor sich selbst Flüchtenden, der seinen Schuldgefühlen und der Sehnsucht nach Erlösung nicht entkommt.
Gstreins klar strukturierte, vielschichtige Erzählweise und seine präzise Sprache, in der auch lange Satzkonstruktionen mühelos lesbar sind, lässt das Buch zu einem fesselnden Leseerlebnis werden.
Norbert Gstrein: Als ich jung war. Hanser, München 2019, 348 Seiten, € 23
Eine alltägliche Siedlung mit nahe beieinanderstehenden, gegenseitig einsehbaren Mehrfamilienhäusern in einer österreichischen Stadt ist der Schauplatz in Anna Weidenholzers neuem Buch. In dieser Siedlung lebt das Paar Peter und Elisabeth in einer zufälligen Gemeinschaft mit einer Handvoll Nachbarn. Gegenüber wohnen Karla und Heinz, die sich wechselseitig bei ihrem Nachnamen nennen und ein nicht ganz pflegeleichtes Chinchilla als Haustier haben. Dann gibt es noch Frau Richter, die sich für die Einhaltung geschriebener und ungeschriebener Gesetze zuständig hält, einen einsamen alten, zunehmend verwahrlosenden Mann namens Fleck und den Briefträger Franz. Alles scheinbar normale Leute. Eine Rolle spielt außerdem das Café Maria, ein beliebter Treffpunkt der Siedlungsbewohner/innen. Neben der Lokalinhaberin doziert dort manchmal eine mysteriöse „Professorin“ über gesellschaftliche Themen und wissenschaftliche Erkenntnisse. Auch Peters Herkunftsfamilie gehört zum Personal. Aus einem Traum erwacht, es ist 1.18 Uhr, reflektiert Elisabeth in der folgenden schlaflosen Nacht ihr Leben an Peters Seite. Was als Liebesgeschichte beginnt, wird mehr und mehr zur Entfremdung. Es fängt damit an, dass Peter vom Wetterredakteur zum politischen Berichterstatter in einer neuen Zeitung aufsteigt. Ungefähr gleichzeitig nimmt der Nachbar einen Job beim Wachdienst an. Damit kommen die gesellschaftspolitischen Verhältnisse ins Spiel. Es passiert fast gar nichts auf den gut 200 Seiten. Und doch verändert sich alles.
In knappen, nüchternen, fast lakonischen Sätzen die sogenannten kleinen Leute im großen politischen Zusammenhang lebendig werden zu lassen, ist die Spezialität der Autorin. Das ist ihr auch diesmal wieder eindrucksvoll gelungen.
Anna Weidenholzer: Finde einem Schwan ein Boot. Matthes & Seitz, Berlin 2019, 220 Seiten, € 20,60
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