Pater Lotfi, Sie haben Ahmed al-Sharaa persönlich getroffen. Welchen Eindruck machte der frühere Rebellenführer und jetzige Präsident auf Sie?
Pater Firas Lotfi: Ich traf Ahmed al-Sharaa gemeinsam mit den Oberhäuptern aller christlichen Gemeinschaften Syriens. Mein erster Eindruck war, dass er ein ruhiger Mann ist, pragmatisch und sehr aufgeschlossen gegenüber dem Dialog. Bei diesem Treffen sprachen wir ausführlich über die Sorgen, die der Sturz des alten Regimes und die Herrschaft der Islamisten bei vielen Christen auslösten. Al-Sharaa hörte genau zu. Das ist wichtig für einen Präsidenten, wenn er Syrien in eine bessere Zukunft führen will. Nicht nur reden, sondern vor allem auch zuhören können – etwas, das Bashar al-Assad fehlte. Er sprach viel und führte das Land in die Katastrophe. Al-Sharaa betonte, dass er die historische Rolle der Christen in Syrien anerkenne. In diesem Sinne wolle er uns auch nicht als Minderheit bezeichnen, sondern vielmehr als essenziellen Teil der syrischen Gesellschaft. Dass er uns auf diese Weise anerkannte, gefiel uns natürlich. Er betonte außerdem, dass die Zeit der bewaffneten Revolution mit dem Sturz des Regimes beendet sei. Jetzt sei die Zeit gekommen, Syrien zu einem besseren Land zu machen, eine neue Verfassung zu entwerfen und Syrien wieder aufzubauen.
Al-Sharaa war Mitglied von Al-Kaida, bevor er sich 2016 von der Terrororganisation lossagte und sich heute als gemäßigter Islamist gibt …
Pater Lotfi: Wir kennen natürlich al-Sharaas Vergangenheit. Wenn er das Land zum Positiven verändern will, kann er das nicht mit der Mentalität eines islamistischen Rebellenführers tun. Er muss sich ändern, weg vom Dschihadisten hin zu einem Politiker, der bereit ist, seine Macht zu teilen. Im Gespräch mit uns hörte sich alles schön an. Wir müssen jetzt abwarten und sehen, ob er seinen Worten auch Taten folgen lässt.
Racheaktionen und Massaker an Alawiten scheinen al-Sharaas Worten zu widersprechen.
Pater Lotfi: Im Gespräch mit uns sagte al-Sharaa, dass dem Drang nach Rache nachzugeben zu immensem Blutvergießen führen werde. Es sei daher wichtig, dem Impuls nach Rache zu widerstehen und auf Versöhnung hinzuarbeiten. Das hörte sich positiv an. In der Realität haben wir aber gesehen, dass in den Küstengebieten, wo die Mehrheit der Alawiten lebt, die Dinge eskalierten. Das ist nicht gut. Was die Personen anbelangt, die unter Assad Verbrechen begingen, darf es hier keine Selbstjustiz geben, sondern sie müssen vor Gericht gestellt werden. Nur so kann Syrien diese Vergangenheit hinter sich lassen. Aber das syrische Volk ist durch den Krieg traumatisiert. Es ist nicht einfach, denjenigen, die den Krieg gewonnen haben, zu erklären, dass sie die anderen friedlich behandeln sollen.
Wie könnte ein zukünftiges Syrien aussehen?
Pater Lotfi: Syrien ist ein sehr kompliziertes Land. Wir haben zwei Religionen, den Islam und das Christentum, die wiederum in unterschiedliche Strömungen und Konfessionen aufgespalten sind. Hinzu kommen zahlreiche Ethnien wie Kurden, Armenier oder Aramäer. Die Frage ist, welches politische System diese Vielfalt am besten abbildet. Ein zukünftiges Syrien muss demokratisch und zivilgesellschaftlich organisiert sein, und vor allem darf niemand ausgeschlossen werden. Exkludiert man die Kurden oder die Alawiten, kann es keinen gesellschaftlichen Frieden geben. Stattdessen brauchen wir ein politisches System, das jeden als Staatsbürger respektiert, ohne nach der konfessionellen oder ethnischen Zugehörigkeit zu fragen. Ich kann nicht jemanden zum Wirtschaftsminister ernennen, nur weil er Sunnit oder Christ ist. Er sollte sein Amt bekommen, weil er Syrer ist und über die notwendigen Zertifikate und Qualifikationen verfügt. Ein vom religiösen Proporz geprägtes System, wie wir es im Libanon sehen, halte ich daher nicht für richtig. Welche Regierungsform Syrien darüber hinaus in Zukunft haben wird, ob Föderation oder Konföderation, ob Republik oder nicht – das ist für mich nicht wichtig. Entscheidend ist, dass die Regierung Syrien in eine gute Richtung lenkt und niemanden ausschließt. Das Schlüsselwort dabei ist für mich das Konzept der Staatsbürgerschaft, was bedeutet, dass alle die gleichen Rechte und Pflichten haben. Und zwar, weil man Syrer ist und nicht, weil man Christ ist oder Muslim, Mann oder Frau.
Die westliche Staatengemeinschaft kündigte an, die Sanktionen gegen Syrien erst aufheben zu wollen, wenn das Land einen demokratischen Wandel vollzieht. Wie sehen die Syrer das?
Pater Lotfi: Natürlich gibt es Befürchtungen, dass die neuen Machthaber ein ähnliches Regime errichten könnten, wie es 54 Jahre unter der Familie Assad bestand. Mit all der Unterdrückung, mangelnder Freiheit und Foltergefängnissen wie Sednaya. Gleichzeitig ist aber auch die wirtschaftliche Lage in Syrien sehr schlecht. Viele tausende Menschen haben ihre Arbeit verloren und können sich die Nahrungsmittel kaum leisten. Andere leben nach 14 Jahren Krieg und Zerstörung immer noch in improvisierten Zeltlagern. Ich weiß um die Dringlichkeit demokratischer Strukturen und Institutionen und einer starken Zivilgesellschaft. Aber alles braucht seine Zeit. Auch eine Mutter braucht neun Monate, um ihr Kind auf die Welt zu bringen. So sehr die Syrer diese politischen Veränderungen befürworten, ist es ebenso wichtig für sie, möglichst rasch der Armut zu entkommen. Viele Menschen haben nicht mehr die Geduld, weitere Jahre zu warten, bevor sich wirtschaftlich vielleicht etwas bessert. In meiner Gemeinde bitten mich daher viele Familien um Hilfe, weil sie das Land verlassen wollen. Die Menschen sind wirklich müde. Das sollte auch die internationale Gemeinschaft verstehen und dem syrischen Volk so rasch wie möglich helfen.
Im Dezember stürzte ein Rebellenbündnis binnen zwölf Tagen das Assad-Regime in Damaskus. Die Speerspitze der Blitzoffensive bildete die Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS), angeführt von Ahmed al-Sharaa. Er ist kein Unbekannter: Unter dem Kampfnamen al-Dscholani führte er 2011 eine kleine Gruppe von Al-Kaida-Kämpfern aus dem Irak nach Syrien. Schon bald entwickelte sich daraus eine der schlagkräftigsten Milizen im syrischen Krieg.
Als Ableger von Al-Kaida propagierte er einen extremistischen Islam. Doch diese Radikalität verbaute al-Sharaa Möglichkeiten der Kooperation mit regionalen Partnern, weshalb er sich 2016 von Al-Kaida lossagte. Als Beherrscher der Rebellenhochburg Idlib gab sich al-Sharaa in den letzten Jahren gemäßigt islamistisch. Er ließ bürokratische Strukturen aufbauen und, innerhalb gewisser Grenzen, das Heranwachsen einer Zivilgesellschaft zu.
Als neuer Staatspräsident kündigte al-Sharaa an, ein Syrien für alle aufbauen zu wollen und die Minderheiten zu schützen. Dazu zählen auch die Alawiten, denen die Familie Assad angehört und die traditionell hohe Positionen in Militär und Geheimdiensten bekleideten. Kämpfe in der Küstenregion, bei denen hunderte alawitsche Zivilist:innen ermordet wurden, ließen Anfang März aber Zweifel aufkommen, ob al-Sharaa in der Lage ist, diese Sicherheitsgarantien auch einzuhalten. Ende März ernannte der Präsident eine Übergangsregierung, der auch eine Christin sowie Vertreter von Alawiten und Drusen angehören.
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