Über das Leid im persönlichen Leben und in der Welt, über Schuld und Versöhnung, über das „Böse“ und seine Überwindung: „Gott geht mit den Menschen alle Wege – auch die Kreuzwege“, sagt der Vorarlberger Bischof Benno Elbs.
Ausgabe: 2014/15, Elbs, Gott, Kreuzweg
08.04.2014 - Interview: Gilbert Rosenkranz
Herr Bischof, Sie haben als Priester auch die Ausbildung zum Psychotherapeuten gemacht. Warum? Elbs: Zu meiner Zeit im Priesterseminar war ich ehrenamtlicher Mitarbeiter bei der Rettung. Ich habe damals viele an Leib und Seele verwundete Menschen erlebt. Und so habe ich mehr und mehr begonnen, mich für die Seele zu interessieren. Heute würde ich sagen, Psychotherapie und Glaube sind ein gutes Geschwisterpaar. Ich merke das etwa, wenn es um Schuld und Vergebung geht. Was die Psychotherapie leisten kann ist, Schuld zu interpretieren, sie besser zu verstehen. Gerade in diesem Bereich ist mir die Zusammenarbeit mit Psychologen wichtig. Was Menschen aber auch suchen ist Lossprechung, Vergebung, Neuanfang. Und da ist der Glaube gefragt.
„Das Leben behält seinen Sinn unter allen Umständen – auch im Leiden.“ Ein Satz von Viktor Frankl, der das Konzentrationslager überlebt hat. Angesichts all der menschlichen Tragödien – würden Sie den Satz trotzdem unterschreiben? Elbs: Ich bin als Priester und Bischof immer wieder in solchen Situationen, in denen ich in Demut vor dem Leid von Menschen stehe. Gerade dann muss ich sagen: Ich habe keine Antwort auf die Frage nach dem „Warum?“. Was ich versuche, ist ein bescheidenes und schlichtes Mitgehen. Viktor Frankl spricht, wenn das Leiden erdrückend wird, vom Gehen wie im Nebel. Man sieht die Sonne zwar nicht, weiß aber, dass sie da ist. Dass das Leben auch im Leiden Sinn hat, liegt für mich in der großen Zusage Gottes: „Ich bin bei Euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“ Das heißt, ich bin nie allein. Ich darf mich ängstigen, ich darf verzweifeln und zweifeln, aber ich weiß, ich bin geborgen in einem größeren Ganzen. Das kommt auch in der Offenbarung des Namens Gottes zum Ausdruck: „Ich bin dort, wo Du bist“ (Buch Exodus 3,14), wie der Philosoph Martin Buber übersetzt. Die Offenbarung geschieht in einem Dornbusch, mitten im Gestrüpp. Eine Offenbarung, die auch bedeutet: Gott geht alle Wege mit. Auch dorthin, wo Dornen und Stacheln wuchern.
Würden Sie diesen Satz von Viktor Frankl also unterschreiben? Elbs: Ja, ich würde … (und dann nach einigem Nachdenken) – aber mit zittriger Hand und großem Respekt, weil ich ja nicht weiß, wie es mir selber gehen würde.
Der Fußballer Dominique Taboga, der in einen Spielbetrug verwickelt ist, sagte, er habe nach Auffliegen des Skandals an Selbstmord gedacht. Einzig die Bilder seiner Frau und seiner Kinder hätten ihn gerettet. Woran hängt das Leben? Elbs: Auf diese Frage gibt es wohl so viele Antworten wie Menschen. Persönlich kann ich sagen, dass ich das Leben wirklich als ein Geschenk Gottes erfahre. Und zu dieser Erfahrung gehört, dass Er mir sein Ja gegeben hat. Ein Ja, das er zu jedem Menschen sagt und das jedem Menschen seine Würde gibt. Mit diesem Geschenk des Lebens zu tun hat für mich die Dankbarkeit. Und damit das Gebet, dessen wichtigste Form die Dankbarkeit ist. Interessant finde ich in Bezug auf das Glück des Menschen die Ergebnisse der modernen Gehirnforschung. Demnach ist wesentlich für das Glück im Leben das Dazugehören – zur Familie, zu Freunden, zu Gott … Übrigens glaube ich, dass Papst Franziskus das Thema Familie auch deshalb so wichtig nimmt, weil davon die Zukunft unserer Gesellschaft abhängt. Eine gute Familie gibt innerlich die Kraft zum Leben. Jugendliche sagen das in einer Studie sehr deutlich: Wovor sie die größte Angst hätten, antworteten die meisten: vor dem Verlust der Familie. Was sagen Sie dazu, dass – offensichtlich unter dem Eindruck von anhaltendem, schweren Leiden – in einigen Ländern Europas aktive Sterbehilfe bereits erlaubt ist, sogar bei Kindern? Elbs: Diese Entwicklung macht mich sehr nachdenklich. Zunächst einmal, weil hinter dem Wunsch zu sterben fast immer ein Hilferuf steckt – ein Ruf nach Nähe, ein Ruf nach Schmerzfreiheit. Ein Ruf, den es zu hören gilt. Gerade deshalb ist es so wichtig, die großartige Arbeit der Hospizbewegung zu unterstützen und auszubauen. Weiters warnen nicht wenige vor der Gefahr eines Dammbruchs: Denn es ist kein großer Schritt von der aktiven Sterbehilfe bis hin zu einer Gesellschaft, die älteren oder kranken Mitgliedern das Sterben nahelegt, um nicht zur Belastung zu werden. In so einer Gesellschaft möchte ich nicht leben. Letztlich ist doch die Frage, wo es hinführt, wenn wir Gott spielen. Wo es hinführt, wenn wir über das Leben anderer entscheiden. Das Leben ist unendlich viel wert. Als Kirche müssen wir daher für eine Kultur des Lebens eintreten.
Leid, wenn es nicht „schicksalhaft“ über Menschen hereinbricht, hat auch mit Schuld zu tun und damit, schuldig zu werden. Warum tun sich Menschen mit dem Entschuldigen so schwer? Elbs: Unsere Gesellschaft trimmt die Menschen auf Erfolg. Gefragt ist, wer stark ist. In so einer Atmosphäre einen Menschen um Entschuldigung zu bitten, kommt fast schon einem Todesurteil gleich. Wir erleben das in der Politik. Sich in aller Öffentlichkeit zu entschuldigen wird als Schwäche ausgelegt und schadet dem Image. Wer Schuld zugibt, muss meist von der Bühne abtreten. Aufgabe der Kirche dagegen ist es, eine Atmosphäre der Versöhnung und Vergebung zu schaffen. Und zu vermitteln, dass es für jeden Menschen einen Neuanfang gibt. Das ist auch deshalb so wichtig, weil verdrängte Schuld wie Dynamit wirkt. Mir ist klar, dass es viel einfacher ist, die Schuld bei anderen zu suchen. Sich zu entschuldigen verlangt mehr, leistet aber auch um einiges mehr: Ich komme wieder mit mir ins Reine, kann gemachte Fehler korrigieren, befreie mich von Schuld und vor allem ich versöhne mich mit meinem Gegenüber. Vom Glauben her ist die Vorgabe klar: Jesus sagt, dass nicht die Gesunden den Arzt brauchen, sondern die Kranken. Es geht ihm um Vergebung, um heilende Nähe, ein Ende der Lüge, um Wahrheit. Wichtig scheint mir da auch eine lebendige Erinnerungskultur. Gerade rund um die Seligsprechung des von den Nationalsozialisten ermordeten Provikars Carl Lampert haben wir in Vorarlberg erlebt, wie heilend die Rückbesinnung auf Vergangenes sein kann.
Auf der Krim zeigt es sich wieder: Der Stärkere setzt sich durch. Es scheint so, als wären die Schwachen die Dummen. Warum macht für Sie Gewaltfreiheit Sinn? Elbs: Ich bin der festen Überzeugung, dass die Güte des Herzens die einzige Kraft ist, die die Welt nachhaltig verändert. Natürlich: Auf den ersten Blick sind Menschen wie Franz Jägerstätter, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela oder auch Bischof Erwin Kräutler die Schwächeren. Doch die Geschichte wird ihnen recht geben. Ich kann gut verstehen, dass die Versuchung zur Mutlosigkeit groß ist. Doch was ist die Alternative? Mit Gewalt gegen Gewalt anzutreten führt niemals aus der Spirale der Ungerechtigkeit hinaus. Was die Krise rund um die Krim betrifft, hat die Europäische Union bisher klug gehandelt. Ich halte es für richtig, alles zu tun, um die Anwendung von Gewalt so gut wie möglich zu vermeiden. Gewalt kränkt Menschen. Und gekränkte Menschen sind wie tickende Bomben. An vielen Orten der Erde herrscht Krieg, Millionen von Christen leiden Verfolgung, Frauen sind Opfer sexueller und häuslicher Gewalt, Kinder werden erniedrigt. Die Macht des Bösen und die Ohnmacht hinterlassen ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Viele sagen: „Man kann eh nichts tun!“ Elbs: Das Böse ist eine Realität. Es ist gefährlich, so zu tun, als gäbe es das Böse nicht. Der für mich entscheidende Zugang, mich für das Gute einzusetzen, ist die Zusage Gottes, dass er alle Wege mitgeht – auch die Kreuzwege. Aus Gottes Zusage an Mose „Ich bin dort, wo Du bist“, erwächst eine große Hoffnung. Und was die Gewalt betrifft: Es geht darum, hinzusehen und sie sichtbar zu machen. Kommt das Böse ans Licht, wird es entlarvt. Es behält nur so lange seine Macht, so lange es nicht sichtbar wird. Für wertvoll im Umgang mit dem Bösen halte ich zudem das Gebet. Für Menschen zu beten, von denen ich weiß, dass sie es nicht gut mit mir meinen. Jesus sagt ja: „Betet für die Feinde!“ Tatsächlich habe ich erlebt, dass sich die Beziehung zu Menschen, die mir ablehnend gesinnt sind, verändert, wenn ich für sie gebetet habe.
Und was können wir tun außer zu beten? Elbs: Dem Beispiel Jesu folgen und in unseren Nächsten, vor allem den Bedrängten, unsere Schwestern, unsere Brüder sehen. Nehmen wir das Beispiel der weit über sechs Millionen Flüchtlinge in Syrien. Das Elend dort ist unbeschreiblich groß. Und ein Land wie Österreich ist sicher in der Lage, mehr als 500 Menschen aufzunehmen, von denen noch nicht einmal die Hälfte hier angekommen ist. Die Signale sind leider nicht vielversprechend. Hier wird mit Hilfe gegeizt. Das macht mich wütend und traurig zugleich.