Der Tod und das Leben danach: ein Lernprozeß mit Kindern
Ausgabe: 1999/25, Serie: Mit Kinder Gott entdecken,
22.06.1999 - Mag. Elisabeth R. Stadlmeier
Es war an einem sonnigen Nachmittag im Spätfrühling, als meine Tochter neben ihrer Freundin auf der Schaukel saß. „Doris, wir werden dann ins Haus gehen. Ich muß noch das Abendessen vorbereiten. Es soll alles fertig sein, bevor Papa nach Hause kommt“, sagte ich zu meinem Kind. „Ist gut“, meinte sie und zu ihrer Freundin gewandt: „Wann kommt denn dein Papa nach Hause?“ „Mein Papa kommt nicht nach Hause.“ „Kommt er morgen?“ „Nein, und auch nicht übermorgen. Er ist tot. Ein Auto hat ihn tot gemacht. Er wohnt jetzt im Himmel.“ Mir stockte der Atem. Mein Mann und ich wußten, daß die kleine Mira vor einigen Monaten ihren Vater durch einen Unfall verloren hatte. Wir wußten und nahmen Anteil am Schmerz der jungen Mutter, die nicht nur mit dem Verlust leben lernen, sondern auch ihrem Kind das Unbegreifliche begreiflich machen mußte: Papa kommt nie wieder.Unserer Tochter hatten wir nichts von alledem erzählt. Sie kannte den Nachbarn kaum, wir wollten sie nicht „belasten“ und fühlten uns wohl auch überfordert, mit der damals Dreijährigen über den Tod zu sprechen. Beim Abendessen platzte es dann aus Doris heraus: „Mira war heute sehr traurig. Sie sagt, daß ihr Papa nicht wiederkommt. Er wohnt jetzt im Himmel.“ Sie schwieg und wir nickten stumm.
Was ist mit Stock und Brille?
Einige Zeit später traf unsere eigene Familie Tod mitten im Leben. Mein Schwiegervater, der jahrelang gegen Krebs gekämpft hatte, verstarb im Krankenhaus. Er, der nie wollte, daß viel Aufhebens um seine Person gemacht wurde, wünschte sich eine Veraschung und eine Beisetzung im allerengsten Kreis. Wir sprachen mit unseren Kindern: „Opa war sehr krank. Er hatte große Schmerzen. Jetzt tut ihm nichts mehr weh. Es geht ihm gut. Er ist nun bei Gott.“ Die Kinder hörten aufmerksam zu. „Bekommt er im Himmel auch etwas zu essen?“ fragte die vierjährige Lisa. „Das Beste, das du dir denken kannst“, erwiderte ich überzeugt. „Da bin ich aber froh“, meinte sie sichtlich erleichtert.
Wir setzten dann die Urne bei, die Kinder waren beim Begräbnis nicht anwesend. Ich war froh darüber. Wie hätte ich ihnen erklären sollen, daß diese Schale das ist, was von ihrem Großvater sichtbar übrigblieb? Als wir wieder zu Hause waren, gab ich ihnen folgende Erklärung: „Wir haben heute einen Platz gefunden, an dem wir fest an Opa denken und für ihn beten können. Nächsten Sonntag fahren wir gemeinsam auf den Friedhof und schmücken diesen Platz mit Blumen.“ Die Kinder stimmten zu. Dann verstarb ihre Urli. Eine Frau, die ihnen besonders ans Herz gewachsen war: Sie erzählte so wunderschöne Geschichten und hatte stets diese herrlichen Kinderbonbons dabei. Es fiel mir schwer, Doris und Lisa zu sagen, daß nun auch ihre Urli tot sei. „Wo ist sie denn jetzt, auch im Himmel? Kann sie dort Opa sehen?“ fragten sie. Ich nickte. „Hat sie ihren Stock und ihre Brille mitgenommen?“ Ich verneinte und sagte: „Das alles braucht Urli im Himmel jetzt nicht mehr. Sie braucht auch ihren Körper, das, was wir angreifen können, nicht mehr. Deshalb werden wir diesen auch in einen Sarg legen und begraben. Ihr Lachen, ihre guten Gedanken, ihr Schimmern in den Augen, wenn sie erzählte, die Freude, die sie anderen bereitete, all das lebt weiter bei Gott.“ Das fanden wir in vielen gemeinsamen Gesprächen heraus.
Gespräche, die immer wieder- kehren, zu passenden und zu – scheinbar – unpassenden Gelegenheiten: Während ich Kartoffeln schäle, fragt Doris: „Mama, mußt du auch sterben?“ „Ja.“ „Wann stirbst du?“ „Das weiß ich nicht, das weiß nur Gott.“ „Gell, Mama, unsere Zukunft liegt bei Gott – das sagt auch unsere Tante im Kindergarten.“ Ich bejahe und füge hinzu: „Ich hoffe, daß ich noch lange bei euch bin.“ „Und wenn du stirbst, dann brauchst nicht traurig sein, ich komme dann bald zu dir.“ Einmal meint Lisa beim Autofahren, mitten auf der Kreuzung: „Mama, ich brauche eine Leiter.“ „Wozu?“ frage ich. „Ich muß ja in den Himmel hinaufklettern, Opa wartet ja schon auf mich.“ Da mischt sich Doris ein: „Wie willst du denn das machen?“ „Ganz einfach: Ich klettere auf dein Bett und dann weiter, immer weiter und weiter.“
Offen für das Geheimnisvolle
Wir haben Abschied genommen von Menschen, die wir lieben. Es war nicht immer leicht – Loslassenkönnen dauert, ist ein prozeßhaftes Geschehen. Die Fortgegangenen in lebendiger Erinnerung zu behalten, ist uns ein wichtiges Anliegen. Doch wie sie sich verändert haben, so muß sich auch unsere Beziehung zu ihnen wandeln. Wir alle haben in der letzten Zeit viele neue Erfahrungen gemacht, viel aneinander gelernt. Es wurde mir immer mehr bewußt, wie wichtig es ist, für Bilder, Gedanken und Fragen der Kinder offen zu sein, gemeinsam nach Antworten zu suchen und ihnen nicht meine Antworten überzustülpen bzw. Antworten zu geben, die sie nicht erbeten haben; wie wichtig es ist, meine „Wahrheiten“ in eine Sprache zu kleiden, die ihnen Raum läßt, sie auf ihre Weise anzunehmen oder umzuformen. Kinder nehmen auf ihre Weise wahr, sie haben ihre eigene Sicht der Welt, und sie besitzen eine Fähigkeit, um die ich sie beneide: offen zu sein für das Unerklärbare, Nichtgreifbare, Wunderbare und Geheimnisvolle.
Wir schweigen, beten, reden, singen, träumen, lachen, weinen, streiten miteinander; wir nehmen uns in die Arme und halten uns fest, wenn Worte überflüssig werden. In diesem Miteinander hoffe ich, daß meine Kinder sich entfalten können, daß der Boden bereitet wird, auf dem sie ihre persönliche Spiritualität, ihren Glauben an das Gute im Menschen und ihren Glauben an Gott zum „Knospen“ bringen können. Als Mutter kann ich vieles tun, ich bin aber nicht für alles verantwortlich. Ich bin selber eine Wandernde, eine Suchende, manchmal eine Irrende. Was mich trägt, ist die Gewißheit: Ich gehe meinen Weg nicht alleine - Gott sei Dank.