Etwa 1,2 Millionen Schülerinnen und Schüler erhalten in diesen Tagen in Österreich ihr Zeugnis. Bei etwa 40.000 enthält dieses ein „Nichtgenügend“. Auch wenn die Benotungskriterien und die Tatsache der Benotung selbst gelegentlich in Diskussion gerät, so gehört das Zeugnis noch immer zu den Selbstverständlichkeiten des Schuldaseins.
Mehr als das Zeugnis, das man zum Jahresschluß bekommt, zählt das Zeugnis, das ein Mensch von sich gibt. Und dieses ist nicht auf die Lebensphase der Ausbildung beschränkt, sondern Sache des ganzen Lebens. Es sind dann weniger Rechtschreibregeln oder Einmaleins-Künste, die einem abverlangt werden. Das Zusammen der vielen kleinen Entscheidungen, die ein Mensch Tag für Tag trifft, macht dieses Zeugnis aus. Gut rechnen zu können ist ein Leistungsziel in der Schule. Aber ob einer dann nur zu eigenen Gunsten kalkuliert, oder ob er seine mathematischen Fähigkeiten für das Wohl anderer einsetzt, steht im Lebenszeugnis.
Ob jemand treffend formulieren gelernt hat, weist das Schulzeugnis aus. Aber für wen dieser Mensch seine Stimme einsetzt, hat mit dem Zeugnis des Lebens zu tun. Selbst Genies können ihre Fähigkeiten zum Schaden der Menschen einsetzen. Sie haben dann nur ihre Macht im Sinn; vielleicht ist es auch nur der Ehrgeiz, der sie treibt. Und wer enttäuscht ist, weil die eine oder andere Note im Zeugnis von Sohn oder Tochter nicht ganz den Erwartungen entspricht, mag sich fragen, wie weit er es in diesem Jahr mit seinem Lebenszeugnis gebracht hat.
„Mehr als das Zeugnis, das man zum Jahresschluß bekommt, zählt das Zeugnis, das ein Mensch von sich gibt.“
Matthäus Fellinger, Chefredakteur der Kirchenzeitung der Diözese Linz