„Völkerwanderung“, „Islamisierung“, „Kontrollverlust“: Die Flüchtlingskrise nährt Ängste. Wie man dem Thema vernünftig begegnet, beschäftigt den Migrationsforscher Heinz Fassmann.
Manche Menschen fürchten einen wachsenden Islam und kulturelle Probleme. Zu Recht? Fassmann: Zu den dramatischen Fernsehbildern braucht es kritischen Abstand. Wir werden heuer vielleicht 80.000 Asylwerber haben, von denen voraussichtlich rund 40.000 bleiben werden. Aufgrund des hohen Anteils an Syrern, Afghanen und Irakern werden fast alle Muslime sein: Gemessen an der aktuellen Zahl der Muslime in Österreich – geschätzt rund 600.000 – sind das rund 7 Prozent. Die Flüchtlingswanderung führt zu einer Zunahme der Muslime, aber das bleibt im Rahmen. Was die Fragen des Zusammenlebens betrifft, fehlt das gesicherte Wissen über die Einstellung der Flüchtlinge. Eine These lautet: Das sind säkular denkende Menschen, die aus einem religiös befeuerten Konflikt kommen und mit dem Missbrauch von Religion nichts mehr zu tun haben wollen. Eine andere These wäre, dass die Menschen in ihrer traditionellen Einstellung verharren. Ich weiß nicht, welche These in zwei Jahren die Oberhand gewinnen wird – möglicherweise beide.
In Deutschland diskutiert man die Verteilung des Grundgesetzes auf Arabisch oder Broschüren über Werte. Was ist davon zu erwarten? Fassmann: Wir müssen unsere grundsätzlichen, westlichen Werte erklären und einfordern: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Liberalität, Religionsfreiheit, Gleichberechtigung ... Das Annehmen der Werte im täglichen Leben ist aber eine andere Frage.
Es heißt manchmal, Integration verändert Zuwanderer und Einheimische. Was bedeutet das? Fassmann: Es gibt einen Teil des Integrationsprozesses, wo das Bild nicht passt: Über Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und die anderen eben genannten Werte möchte ich nicht verhandeln. Die Gesellschaft wird aber zwangsläufig weltoffener werden. Dinge des täglichen Lebens werden sich verändern. Aber wir sollten nicht unter den Teppich kehren, dass es Wertekonflikte geben wird. Diese müssen entschieden werden, zum Teil von Gerichten.
Besonders der hohe Anteil junger Männer unter den Flüchtlingen macht Menschen Angst. Ist der Männerüberschuss ein Problem? Fassmann: Es stimmt zwar: Rund 80 Prozent der Menschen, die kommen, sind Männer unter 35 Jahren. Aber wenn 40.000 von den 80.000 Asylwerbern bei uns bleiben, dann ist das rund ein Prozent der männlichen Wohnbevölkerung. Im Übrigen werden in vielen Fällen die Familien nachkommen. Insgesamt sind die 80.000 Asylwerber heuer verkraftbar. Problematischer wird es, wenn es nicht gelingt, die Asylwanderung in eine gewisse Ordnung zurückzuführen. Wenn wir fünf Jahre lang immer so viele Asylwerber haben, sind wir in einer anderen Dimension. Deshalb braucht es Maßnahmen: die Verteilung der Asylbewerber in der EU, die Hotspots an den Außengrenzen zur Erstprüfung eines Asylantrags – inklusive Rückführung, wenn er nicht nachvollziehbar ist. Die Lage in den Flüchtlingslagern in den Krisenregionen muss verbessert werden. Auch die Kontrolle durch die Türkei ist wichtig. Und wir müssen die Fluchtursachen, die Konflikte, bekämpfen.
Zurück zu den Menschen, die bleiben: Aus manchen Wirtschaftskreisen heißt es, wir brauchen diese Arbeitskräfte. Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit hoch. Und: Sind die Menschen, die kommen, jene, die die Wirtschaft braucht? Fassmann: Das wäre zu einfach. Nach dem ersten Integrationsschritt, dem Spracherwerb, braucht es vor allem eine Prüfung der Kenntnisse und Berufe der Menschen sowie Nachschulungsmaßnahmen. Langfristig gesehen ist die einzig sinnvolle Perspektive, dass jene, die bleiben dürfen, möglichst umfassend in den Arbeitsmarkt integriert werden – auch, damit sie etwas von den Steuergeldern zurückzahlen, die ihnen zugute gekommen sind. Aber solch ein Prozess braucht ein bis drei Jahre. Was den Arbeitsmarkt betrifft: Ab 2020 gehen die geburtenstarken Jahrgänge in Pension, dann sehen wir fehlende Arbeitskräfte. Auch deshalb sind 40.000 bleibende Flüchtlinge heuer verkraftbar. Die Flüchtlinge kommen aber – demographisch betrachtet – ein bisschen zu früh, weil wir noch nicht in dieser Situation sind.
Manchmal heißt es, Kanzlerin Merkel wage in der Krise das Großexperiment, ob der Satz „Wir schaffen das“ umsetzbar ist. Stimmt das? Fassmann: Was wir erleben, hat teilweise experimentellen Charakter. Denn die Konstellation „Sozialer Wohlfahrtsstaat und Zuwanderer, die daran partizipieren können“ ist spezifisch für Europa. Die USA haben eine lange Zuwanderungsgeschichte, aber keinen sozialen Wohlfahrtsstaat. Da hieß es: „Ihr könnt eure Werte behalten, denn wir haben sowieso eine pluralistisch aufgeteilte Gesellschaft.“ Aber das entspricht weder dem europäischen Sozialmodell noch der Vorstellung einer zusammenhängenden Gesellschaft. Wir müssen einen eigenen Weg finden.