Schwester Margret Scheurecker: Meine Vision des neuen Jahrtausends
Ausgabe: 2001/08, Margret Scheurecker, Glaube
20.02.2001 - Kirchenzeitung der Diözese Linz
Schülerinnen erkunden barfuß im Garten, was den Augen sonst oft verborgen bleibt. Margret Scheurecker ertastet so Hoffnung.
Acht Uhr früh. Ein sonniger Tag. Die Schulglocke läutet. Ich gehe in den Zeichensaal. Eine Gruppe 16-jähriger Damen, die Kindergärtnerinnen werden wollen, wartet auf mich. Ich packe meine Schultasche aus. Zum Vorschein kommen ein Stapel Frotteehandtücher – blau, gelb, türkis – und duftende Seifen, fragende Augen sind auf mich gerichtet. Ich ziehe ein Buch aus dem Seitenfach meiner Tasche und beginne zu lesen: „Über die Erden muasst barfuss gehn. Ziag d´Schuach aus, die machen di blind! ...“ Die Augen der Mädchen beginnen zu funkeln. „Ja“, sage ich, „und von allem, was eure Zehen im Garten unten finden – Steine, Gräser, Zweige – bringt eine Kostprobe mit!“ Schuhe und Socken fliegen. Auch ich ziehe Schuhe und Strümpfe aus. Das noch taufeuchte Gras lässt die Fußsohlen aufatmen. Schritt für Schritt formen sie ihre Gedanken:
– Der bloßfüßige – d. h. der gewaltlose – Mensch ist verletzlicher als der Gestiefelte. Weil er selbst niemanden verletzen will, setzt er seine Schritte aufmerksam und behutsam. Er beobachtet mehr, er empfindet mehr, er erlebt mehr. Leicht und wendig, wie er ist, vermeidet er, Leben zu zertreten. Umwege nimmt er in Kauf. Er bewegt sich seiner Eigenzeit entsprechend im Rhythmus seiner Schritte. Er ist kein Gejagter. Der bloßfüßige Mensch – eine Vision des Friedens: Jeder Stiefel, der dröhnend daherstampft, wird zunichte (nach Jes 9,4–5). Denn uns ist das Leben gegeben, in unglaublicher Vielfalt ist es uns geschenkt. Die Erde in ihrer Verletzlichkeit und Zartheit, in ihrer Größe und Unüberbietbarkeit wird den Bloßfüßigen anvertraut.
– Der bloßfüßige Mensch ist der Zu-sich-selbst-Gekommene. Er hat gelernt, sich beidbeinig der Erde anzuvertrauen. Er kann zu sich selbst stehen, weil sein Gott zu ihm steht. So besteht er – trotz äußerer Anfeindung. Ihn kann niemand mehr beschämen, denn er weiß um seine Nacktheit. Um seine Schwächen und seine Stärken. Die Zeit der Manipulierbarkeit ist für ihn vorüber. Rasch wechselnde Moden und einseitige Trends durchschaut er: Die „Stiefelkönige“ sind entmachtet.Der bloßfüßige Mensch hat das geheimnisvolle Wort der Wüs-te vernommen: „Zieh deine Schuhe aus! Denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden“(Ex 3,5). Die Ehrfurcht und der Respekt vor dem Geheimnis allen Seins lehrt den Menschen, sich barfuß – d. h. ungeschminkt, unverstellt, ungeschützt – in den Raum Gottes zu begeben. Und der Raum Gottes ist über-all.
– Barfuß laufen ist ein Stück Kindheitserinnerung. Der bloßfüßige Mensch, das ist jener, der sich seinem inneren Kind wieder zuwendet und es aufleben lässt. Leichter, spontaner, herzlicher geht er so durch den Tag. Jesus, der radikal entblößte, hat oft barfuß laufende Kinder in die Mitte geholt, an sich gedrückt und gesagt: Wer die Liebe so vertrauensvoll annimmt wie diese Kinder, hat es gut in dieser und in der von Gott verwandelten künftigen Welt .Vor mir stehen die Schülerinnen. In den Händen halten sie Zweige, Steine, Blätter, Blüten ... Sie sind lebendig geworden. „Und nun?“, fragen sie. „Jetzt verewigen wir uns: Fußabdrücke mit Farbe, Fußabdrücke in weicher Töpfererde. Damit die Archäologen den Schluss ziehen können: Der Mensch des dritten Jahrtausends war ein Barfüßler!“ Lachend gehen wir hinauf in den Zeichensaal, wo Handtücher in Blau, Gelb, Türkis und duftende Seifen auf uns warten.
Ende der Serie Nächste Woche beginnen hier die „Exerzitien im Alltag“.
Über die Erden
Über die Erden muaßt barfuß gehn. Ziag d’Schuach aus, die machen di blind! Dann kannst den Weg mit die Zeichn sehn, des Wasser, den Wind ...
Gspür des nasse Gras auf die Füaß, gspür, wie trocken is der Staub. Gspür, wie dich streichelt das Moos so süaß, gspür, wies’s knistert im Laub.
Lieg ganz still, riach d’Erden und gspür, wie aufsteigt aus ihr a riesige Ruah. Und dann is die Erden ganz nah bei dir und du waßt, du ghörst zu allem dazua.
Martin Auer
Hoffnungstext:
Solang ein Mensch barfuß – das heißt aufmerksam, verletzbar und doch vertrauensvoll – über diese Erde geht, solang die Frau ihrem Mann und der Mann seiner Frau die Füße küsst, solang bist du, Gott, uns allen Vater; wir danken dir für das, was lebt.
Solang ein Kind bloßfüßig in die warme Regenpfütze springt, solang Altgewordene, Kranke, Obdachlose nicht vergeblich hoffen, dass ihre Füße liebevoll gewaschen und gepflegt werden, solang bist du, Gott, uns allen Mutter; wir danken dir für das, was lebt. MS