Jesus hat bei dieser Bitte zunächst sicher an die Nahrung gedacht, die wir täglich brauchen. Brot wurde damals jeden Tag neu zubereitet und war unentbehrlich für eine Sättigungsmahlzeit. Jesus selbst hat hungernde Menschen gespeist (Mt 14, 15–21), weil er Mitleid mit ihnen hatte. Wo Brot ausgeht, da ist das Leben bedroht. Jesus lädt ein, den Vater in kindlichem Vertrauen um das Lebensnotwendige zu bitten, denn Leben ist zuallererst Geschenk. Das entbindet uns nicht, für unsere Zukunft selbst Sorge zu tragen, aber aufs Ganze gesehen gilt: Gott ist der Garant des Lebens.
Brot für die Welt
Es geht dabei nicht um die Existenz des Einzelnen, sondern um die Existenz der christlichen Gemeinde: „unser“ tägliches Brot gib „uns“ heute, so beten wir. Immer wieder weist Jesus auf die gemeinsame Verantwortung für das Leben der Armen und Hungernden hin: In der Gerichtsrede (Mt 25, 31–46) sagt er, dass endgültig verloren geht, wer sich vom Hunger der Armen nicht berühren lässt. In den „Wehe-Rufen“ bei Lukas heißt es: „Aber weh euch, die ihr reich seid; denn ihr habt keinen Trost mehr zu erwarten“ (Lk 6, 24). Dabei denkt er nicht an irgendeinen im letzten belanglosen Trost, sondern an den „Heiligen Geist“ (Joh 14, 26), der jenen versagt wird, die nur an sich selbst denken.
Wenn die Kirchen in den vergangenen Jahrzehnten große Sammelaktionen durchgeführt haben und durchführen, um dem Hunger in dieser Welt zu wehren, dann ist das ein unübersehbares Zeichen, dass sie begriffen haben, worum es in dieser Vaterunserbitte geht.
Zeichen der Zuwendung
Brot war für Jesus und die Menschen seiner Zeit weit mehr als bloß ein Nahrungsmittel. Das zeigt eindrucksvoll der „Brotritus“ beim jüdischen Festmahl. Der Hausherr oder der eingeladene Gast steht beim Mahl auf, erhebt den Brotfladen und spricht: „Gepriesen bist du, unser Gott, König der Welt, der das Brot hervorbringt aus der Erde!“ Dazu sagen alle „Amen“. Dann bricht er das Brot und reicht einem jeden ein Stück. Indem er selbst von seinem Brot isst, eröffnet er das Mahl.
Brot ist zunächst eine Gabe Gottes, ein Zeichen seiner Zuwendung zu uns Menschen. Indem alle ein Stück von dem einen Brotfladen erhalten, wird sinnenhaft erfahrbar, dass sie dadurch zu einer Gemeinschaft werden. Zuwendung und Gemeinschaft braucht der Mensch zum Leben ebenso wie das tägliche Brot, das den Hunger stillt.
Brot des ewigen Lebens
Schließlich spricht Jesus im Anschluss an die Brotvermehrung in der Synagoge von Kapharnaum die geheimnisvollen Worte: „So aber ist es mit dem Brot, das vom Himmel herabkommt: Wenn jemand davon isst, wird er nicht sterben. Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben. Das Brot, das ich geben werde, ist mein Fleisch, (ich gebe es hin) für das Leben der Welt“ (Joh 6, 50–51). „Sein Brot“ ist zunächst das wunderbare Brot der Zuwendung zu den Armen und Hungernden, zu den Sündern und Gescheiterten. So zeigt sich Gottes Zuwendung zu den Menschen. Beim letzten Abendmahl macht er das Brot zum bleibenden Zeichen von Gottes Liebe: „Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis“ (Lk 22, 19). So ist er für alle, die sein Vermächtnis feiern, „Brot des Lebens“ geworden und hat uns eingeladen, füreinander „Brot des Lebens“ zu werden.
Brot für heute
Wenn vom täglichen Brot für „heute“ die Rede ist, so hat das auch für unser Beten Gewicht. Papst Johannes XXIII. hat geschrieben: „Nur für heute werde ich mich bemühen, den Tag zu erleben, ohne das Problem meines Lebens auf einmal lösen zu wollen.“ Vielleicht sollten auch wir Tag für Tag genau um jene Kraft bitten, die wir für diesen Tag brauchen.
Impuls für die Woche
Nachdenken, was diese Vaterunserbitte für mein Leben bedeutet: – Ich mache mir bewusst, wie sehr ich von anderen abhängig bin.– Für wen darf ich „Brot des Lebens“ sein?
Für mein Abendgebet: Für diese Woche nehme ich mir vor, dankbar auf alle Freundlichkeiten zu schauen, die mir geschenkt wurden.
Für den Sonntagsgottesdienst: Wenn ich das „Brot des Lebens“ empfange, will ich Gott danken, dass er sich mir nicht bloß in Liebe zuwendet, sondern sich selbst als unvergängliche Speise schenkt.