Historismus – die Auferstehung des Vergangenen im neuen Kleid
Ausgabe: 2002/26, Kunst, Erinnes, Entwicklung,
25.06.2002
Beim Erleben von Kindern stellt sich uns oft die Frage, woher sie ihr Aussehen und ihre Eigenarten haben. Meine Nichte Katharina verkörpert in manchen Wesenszügen ihre Oma Anna und ist gleichzeitig doch eine eigenständige Person. Ähnlich ist es mit den Bauwerken der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Epochenmäßig sind sie zusammengefasst unter dem Begriff Historismus, besser bekannt aber unter Neuromanik, Neugotik, Neu- . . . Beim Betreten der Kirchen und Gebäude dieser Zeit werden wir in der Formensprache und in Wesenszügen, werden wir im Sichtbaren an Altes erinnert, oft an Mittelalterliches. Und doch atmen diese Räume eine Eigenständigkeit, die sie von anderen unterscheidet.
Die Entdeckung der Geschichte
Was unterscheidet den Neuen Linzer Dom oder die Herz-Jesu-Kirchen in Innsbruck oder in Bregenz von Kirchen des Mittelalters? Es ist die dazwischen vergangene Zeit, die „spürbar“ ist. Der Neuromanik, Neugotik, Neu- . . . geht in der geistesgeschichtlichen Entwicklung die Romantik voraus, die ein nationales Geschichtsbewusstsein weckte und entwickelte. Das fand natürlich auch seinen Niederschlag und seinen Ausdruck in der Architektur der Kirche der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts.Wissen sammeln, aufschreiben und verwendenDiese Zeit könnte auch Zeit der Enzyklopädien (= umfassende Darstellungen allgemein- oder spezialwissenschaftlicher Art) genannt werden. Mit geschichtlichem Bewusstsein wurde das Wissen gesammelt und aufgeschrieben und man versuchte es anzuwenden. Die Rückbesinnung auf die Geschichte war nicht nur eine Erscheinung der Kunst, sondern genauso der Politik und der Theologie. Zum breiten Wissen um die verschiedenen Perioden der Zeit und Kultur kamen die neuen technischen Möglichkeiten. Auch die Einflüsse außereuropäischer oder primitiver Kulturen, vor allem durch die seit 1851 stattfindenden Weltausstellungen, waren vorhanden, weniger allerdings in kirchlichen Bauten. In der Kirche galten Gotik und Romanik im Großen und Ganzen als Vorbilder. Die Formensprache der Renaissance wurde für kulturelle Bauten (Theater, Oper, Museen, Universitäten) aufgegriffen. Das reich gewordene Bürgertum ließ sich vom Barock inspirieren. Diese Zeit geht vom Wissen aus, nicht von der Empfindung oder von der Erfahrung. Das versperrt oft den Zugang. Vor allem auch im Bereich des Glaubens, wo Angerührtsein und Erfahrung wesentliche Elemente sind.Das Wissen um die eigene Geschichte lässt mich auch in meiner Geschichtlichkeit begreifen. Das Kind, in dem Familiengeschichte erlebbar wird, ist Teil einer Linie und der bewusste, der wissende Umgang mit seiner Herkunft eröffnet Zukunft.
Wissen eröffnet eine neue Welt, eine neue Zukunft
Die Menschen des 19. Jahrhunderts waren nicht verbohrt in die Vergangenheit. Politisch war diese Zeit höchst neu, ablesbar zum Beispiel an den entstehenden Regierungsgebäuden. Der neue Umgang mit der kulturellen Vergangenheit machte sich fest an Museumsbauten und entstehenden Sammlungen. Durch das Wissen um Geschichte ist das Heute begreifbar und damit kann die Zukunft neu entwickelt werden. Das ist am Baugeschichtlichen ablesbar, aber auch am geistlichen Leben. Es ist für jede Zeit eine Herausforderung, den Impuls Jesu durch Überlieferung und Theologie in seiner Geschichtlichkeit zu begreifen, den ursprünglichen Impuls dieses göttlichen Lebens zu empfinden und gleichzeitig aus diesem Geist heraus zu handeln und zu leben, im Heute und im Morgen. Die Türme an der barocken Jesuiten-Kirche in Innsbruck oder am Pöstlingberg sind aus der Zeit des Historismus und prägen das jeweilige Stadtbild. Die Herz-Jesu- und Marienfrömmigkeit der Nazarener fanden damals Formen, die heute noch viele Wohnungen zieren. Die Suche nach Bildern und Formen ließ die Menschen jener Zeit in ihrer Geschichte fündig werden.
Den Mut verspüren, einen neuen Schritt zu setzen
Das Wissen um die eigene Geschichte und um die Herkunft ermöglicht uns, das Leben in dieser Linie zu begreifen und diese Lebenslinie zu gestalten – so wie die Baumeister in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Begreifen des Alten gestalterische Kraft für Neues entwickelten. Mein Wunsch an uns ist, nicht in alten Formen stecken zu bleiben,sondern im Wissen um die Tradition die Entlastung zu haben, die Welt nicht neu erfinden zu müssen. Im Wissen um die Botschaft Jesu die Kraft und den Mut zu verspüren, einen neuen Schritt zu setzen, und dem Kind in uns und unserer Welt eine Zukunft zu geben, mit seiner Unverwechselbarkeit und mit dem Akzent, der auf eine größere Wirklichkeit hinweist.
Baustile
Wenn Steine den Glauben verkünden – Eine Kirche ist nicht nur das Gebäude, sie erzählt auch von Glaube und Hoffnung der Menschen der damaligen Zeit.Hubert Nitsch, Kunstreferent der Diözese Linz, wird in dieser fünfteiligen Serie die „Sprache der Steine“ für uns heute verständlich machen.