Gäbe es dafür eine Hitparade – die Frauen und Männer der Bibel würden sie anführen.
Was fasziniert die Autor/-innen der Gegenwart an der Bibel im besonderen? Weniger ist es deren Autorität als „heiliges Buch“, noch weniger der Anspruch, sie enthalte die „unmittelbar von Gott geoffenbarte Wahrheit“. Vielmehr waren und sind für Schriftsteller/-innen aller Zeiten in den biblischen Schriften die existentiellen Fragen der Menschen auf authentische Weise formuliert und zur Sprache gebracht worden. Johann Gottfried Herder nannte sie die „älteste Urkunde des Menschengeschlechtes“. Das lässt sich natürlich auch über die Upanishaden oder über den Koran sagen; dennoch zeigt es, dass die Bibel ein Brennpunkt für die sprachliche Verdichtung der Frage nach dem Menschen war und ist. Nicht zuletzt deshalb haben sich Schriftsteller/-innen auch in besonderem Maße für die Menschen interessiert, von denen in den Geschichten der Bibel erzählt wird. Neben den Figuren der antiken Mythologie gibt es kein „literarisches Personal“, dessen sich die Gegenwartsliteratur häufiger und intensiver bedient hätte. Figuren des Ersten Testaments wie Kain und Abel, Joseph und seine Brüder, Hiob, David, ebenso solche des Zweiten Testaments (neben Jesus finden wir Maria, Maria aus Magdala, neben den Aposteln Johannes den Täufer oder Lazarus) sind zu Handlungsträgern in literarischen Texten der Gegenwart geworden.
Gegen ein allzu bequemes Wiedererkennen
Jedoch auf diejenigen, die an die Gestaltungskriterien frommer Legenden oder Heiligenerzählungen wie der „legenda aurea“ gewöhnt sind, wartet eine Schocktherapie: Denn als dominierendes Gestaltungsprinzip bei der Übernahme biblischer Personen in ihre Texte verwenden die Autor/-innen die Verfremdung: Sie verhindert ein bequemes Wiedererkennen bekannter Figuren („Maria Magdalena – ah ja, die reuige Sünderin!“), indem sie eine möglichst große Distanz zwischen der Figur und ihrem biblischen Vor-Bild aufbaut, sie für uns fremd macht. Verfremdung bedeutet mit den Worten eines Meisters dieser Methode, „dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen“ (Bert Brecht).Eine der größten Bibeldichtungen des 20. Jahrhunderts ist das Romanwerk „Joseph und seine Brüder“ von Thomas Mann (entstanden 1926 bis 1942). Joseph, der Sohn Jakobs, der von seinen Brüdern als Sklave verkauft wird, in Ägypten durch seine Träume das Volk vor einer Hungerkatastrophe bewahrt und von der Knechtschaft zu hohen Ehren aufsteigt, ist eine zentrale Figur der Patriarchengeschichte des Ersten Testaments. Thomas Mann verfremdet die Personen der biblischen Josephsgeschichte von Individuen zu Rollenträgern, die in sich wiederholende Konstellationen eintreten: Joseph wird zum Typus des Sanften und Zivilisierten (wie Abel oder Jakob) im Gegensatz zum Rauhen und Wilden (wie Kain oder Esau) und deutet, wenn er seinen Brüdern verzeiht, bereits auf Jesus voraus, indem er den Kreislauf der Gewalt überwindet. Dieses „mythische Geschichtsbewusstsein“ gestaltete Thomas Mann in seinem Romanwerk bewusst als Gegenentwurf zu zeitgenössischen Mythoskonstruktionen und zum mörderisch gewordenen Antisemitismus seiner Gegenwart.Verborgenes und unerzählt gebliebenes erzählenDie Zahl der literarischen Verfremdungen Jesu Christi – allein im 20. Jahrhundert – ist enorm. Gleichzeitig ist die literarische Aneignung der Jesus-Figur die schwierigste, weil sich die Ambivalenz zwischen dem menschlichen Protagonisten und dem im Zentrum des Glaubens stehenden Sohn Gottes literarisch kaum lösen lässt. Dementsprechend gibt es eine Unzahl misslungener Jesusromane und –erzählungen. Am ehesten sind jene Texte einer Lösung dieses Problems nahe gekommen, die sich der literarischen Technik der „Apokryphen“ bedient haben – also von Schriften, die verborgen und unerzählt gebliebene Aspekte der Geschichte Jesu wiedergeben. Diese Texte versuchen eine indirekte Annäherung an Jesus über Figuren aus der reichen Tradition der „Apokryphenliteratur“ wie z.B. über Barabbas, den einen der Schächer, die mit Jesus gekreuzigt wurden, oder über Ahasver, den „ewigen Juden“, der zu ewiger Wanderschaft verurteilt ist, weil er dem kreuztragenden Jesus die Rast vor seinem Hause verweigerte. Ein Beispiel dafür ist Stefan Heyms Roman „Ahasver“. Im Verlauf des Romans wird die Nähe der so gegensätzlichen Hauptfiguren deutlich: Ahasver und Jesus rebellieren letztlich gegen die ihnen zugewiesenen Rollen und scheitern daran. Dennoch haben sie am Ende den großen Gott-Tyrannen überlistet, indem sie zu Brüdern werden: „Und da er (Jesus) und GOtt eines waren, ward auch ich (Ahasver) eines mit GOtt, ein Wesen, ein großer Gedanke, ein Traum.“ Josef P. Mautner, Theologe und Literaturwissenschaftler, arbeitet als freier Schriftsteller und in der Katholischen Aktion Salzburg.
Lesen Sie nächste Woche: Schriftstellerinnen über Frauen in der Bibel.