Man sollte nicht versuchen, die Wünsche der anderen zu erfüllen, wenn es um einen selber geht.
Ausgabe: 2016/44
31.10.2016
- Mainoosh Sorkhkamal Zadeh
Mullah Nasradin wohnte in einem kleinen Dorf. Er hatte nur einen Esel. Um seine Landwirtschaft zu verbessern, entschloss sich Nasradin eines Tages, mit seinem kleinen Sohn in die Stadt zu gehen und einen zweiten Esel zu kaufen. Auf dem Weg in die Stadt kamen sie durch mehrere Dörfer. Anfangs ritt der Sohn auf dem Esel. Als sie durch das erste Dorf zogen, hörten sie die Dorfbewohner sagen: „Mein Gott, der junge Bursche sitzt gemütlich auf dem Esel und der arme alte Mann muss hinterherlaufen!“ Die beiden nahmen sich das zu Herzen und der Vater sagte: „Es stimmt, ich bin müde.“ Also stieg der Junge ab, und von nun ritt der Vater auf dem Esel. Im nächsten Dorf schauten die Dorfbewohner sich das an und fragten: „Was habt ihr vor?“ „Wir sind unterwegs zur Stadt, um einen zweiten Esel zu kaufen.“ Drauf sagten die Dorfbewohner: „Was für ein Vater bist du, dass dein armer kleiner Junge hinterherlaufen muss!“ Daraufhin stieg der Junge ebenfalls auf den Esel und setzte sich vor seinen Vater. Als sie durch das dritte Dorf kamen, sagten die Leute: „Wie blöd man doch sein kann! Der arme alte Esel muss gleich zwei Menschen tragen, und das bei dieser Hitze!“ Was sollten sie tun? Vater und Sohn schauten einander an, stiegen ab und gingen alle beide zu Fuß. So kamen sie in das letzte Dorf vor der Stadt. Und was sagten die Leute dort? „Ihr seid aber blöd! Ihr habt einen Esel und geht zu Fuß! Da kommen sie den ganzen Weg zu Fuß mit einem Esel an der Leine, um einen zweiten Esel zu kaufen!“ Als sie endlich die Stadt erreichten, sagte der Vater zu seinem Sohn: „Komm, steig auf, wir reiten heim. Wir brauchen gar keinen zweiten Esel!“ Die Geschichte zeigt: Jeder Mensch sollte, wenn es um seine eigenen Bedürfnisse geht, nur auf sich selber schauen. Denn die anderen denken anders und können nicht wissen, was für einen selber gut ist. Man sollte nicht versuchen, die Wünsche der anderen zu erfüllen, wenn es um einen selber geht.
Aus Reiner Steinweg (Hg.): Geschichten aus aller Welt. Buch und CDs gibt es gratis zum Herunterladen: http://www.landdermenschen.at/index.php/material/17-geschichtenbuchGeschichtenbuch. Bei einem Linzer Begegnungsfest im Juni 2013 wurde ein „Erzählzelt“ veranstaltet, in dem Menschen unterschiedlicher Herkunft Geschichten aus ihren Heimatländern – auf Deutsch und in ihrer Muttersprache – erzählten: überlieferte Geschichten, Märchen und Fabeln. Der Verein Land der Menschen und die Friedensinitiative der Stadt Linz haben daraus ist ein Buch und zwei Hör-CDs mit zweisprachigen Geschichten gemacht.