Die Bibel ist ein heiliges Buch, eben die Heilige Schrift. Das bedeutet, dass wir als Christinnen und Christen den entsprechenden Schriften mit Ehrfurcht begegnen. Für die jüdische Bibel gilt dies selbstverständlich auch für jüdische Menschen. Wir geben damit auch die Glaubensüberzeugung weiter, dass diese Schriften in einer Atmosphäre von Gottes Geist verfasst wurden. Als Zweites ein ganz anderer Gedanke: Die Bibel ist ein Text. Stellen Sie sich vor, ein Verlag druckt das Buch eines Autors und lässt dabei gezielt einzelne Sätze weg. Oder er kürzt ein Kapitel, weil ihm der Abschlusssatz nicht gefällt . . . ein Text ist ein in sich gefügtes Ganzes – wie eine kunstvolle Weberei oder eine musikalische Komposition, aus der ich nicht Töne nach Belieben entfernen kann.
Retusche oder notwendige Auswahl? Wir haben es nicht gerne, wenn retuschiert oder geglättet wird: nicht bei Bildern, nicht bei Texten, nicht bei erzählten oder überlieferten Aussagen. Das widerspricht dem Respekt vor der Leistung des Malers, der Schriftstellerin, und es verträgt sich nicht mit der Ehrfurcht vor dem Religiösen.Trotzdem müssen wir von solchen Zwischenlücken und von „verlorenen“ Versen sprechen. Sie finden sich nicht nur in der Textordnung des Markusjahres, sondern in der gesamten Leseordnung. Natürlich muss bedacht werden: Die Lektüre der gesamten Bibel in der Liturgie ist nicht möglich, und es muss eine Auswahl getroffen werden. Aber die ausgewählten Abschnitte müssen zusammenhängende Einheiten bilden, die für die liturgische Verwendung nicht „bearbeitet“ werden. Was konkret damit gemeint ist, können wieder Beispiele zeigen:
Mittendrin fehlen einzelne Verse. Schon an der Schreibweise für biblische Textabschnitte ist das Problem erkennbar. Mk 7, 1–8. 14–15. 21–23 heißt es am 22. So/Jk. Die Verse 9–13 und 16–20 werden also nicht vorgelesen. Damit fehlen an zwei Stellen Konkretisierungen der jesuanischen Aussage. Die erste (9–13) ist nicht sogleich verständlich; sie bezieht sich auf den damaligen Lebenszusammenhang und muss erklärt werden (was ja in der Predigt möglich wäre). Die zweite (16–20) erschließt unmittelbar den Argumentationsweg Jesu. Ähnlich scheint es der 26. So/Jk: Mk 9, 38–43. 45. 47–48. Hier täuscht allerdings der erste Blick, denn die Verse 44 und 46 fehlen in der ursprünglichen Textüberlieferung und sind daher nicht Gegenstand der Verkündigung. Ein genaues Hinschauen ist also erforderlich.
Eine Kurzfassung für eilige Hörer/innen? Manchmal entsteht der Eindruck, die Auswahl berücksichtige die eilige Leserin oder besser den eiligen Hörer, als wäre nicht ausreichend Zeit für den ganzen Text: In erster Linie bezieht sich diese kritische Bemerkung auf die so genannten „Kurzfassungen“, die die Schaffung einer Lücke oder eines gekürzten Lesetextes direkt nahe legen (nicht angeführt sind hier die Beispiele aus den geprägten Zeiten, die sich nicht auf das Markusevangelium beziehen):
Bibeltext ist nicht zufällig so, wie er ist. Weiters ist bei der Eiligkeit an gekürzte Texteinheiten zu denken: So fehlen am 24. So/Jk (Mk 8, 27–35) die letzten drei Verse (8, 36–38); am Hochfest Christi Himmelfahrt setzt das Evangelium mit Mk 16, 15–20 ein, geboten wäre der Beginn bei Mk 16, 9; auch am Hochfest Fronleichnam entsteht eine gehörige Textlücke (Mk 14, 12–16. 22–26). Natürlich kann frau oder man gut begründen, dass die Anspielungen auf den Verrat, die in der Markuserzählung das letzte Mahl Jesu einleiten, nicht gut zu diesem Festtag passen; ähnliche gute Gründe ließen sich für die anderen Beispiele zusammentragen. Aber: Markus hat diese Textabfolge sicher nicht zufällig gewählt und es wäre sinnvoller, die Hörenden (und auch die predigende Person) nach dem tieferen Sinn dieser Textzusammensetzung suchen zu lassen.
Verse „vorsorglich“ weglassen. Schließlich muss noch auf die scheinbare Sorge hingewiesen werden, jene, die das Evangelium hören, könnten in unpassender Weise verwirrt werden. Daher wird in der Osternacht und am Ostersonntag kurzerhand der letzte Vers des Evangeliums „verloren“ (Mk 16, 1–7, Vers 8 bleibt weg): „Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemand etwas davon; denn sie fürchteten sich.“
Angesichts all dieser Lücken, fragt sich, ob es vielleicht auch anders gehen könnte. Das wird uns in der nächsten Folge beschäftigen.
Dr. Walter Kirchschläger, Professor für Auslegung des Neuen Testaments, Theol. Fakultät, Universität Luzern
Lesen Sie kommende Woche hier: Leseordnung NEU
Vorschlag für Bibelarbeit
Schlagen Sie die verschiedenen Textbeispiele im Markustext (www.kirchenzeitung.at) oder in der Bibel nach.
Überprüfen Sie insbesondere die Lücken. Fragen Sie nach der Hauptaussage der jeweiligen Texteinheit mit und ohne die Lückenverse.
Überprüfen Sie die Angaben zu den Evangelien, die nicht aus dem MkEv entnommen sind: in den geprägten Zeiten, am 17. bis 21. Sonntag im Jahreskreis und am HochfestChristkönig (Liste auf www.kirchenzeitung.at).
Prüfen Sie Lücken, Kurzfassungen, Textabgrenzungen und fragen Sie nach dadurch hervorgerufene Sinnverschiebungen.
WALTER KIRCHSCHLÄGER, Professor für Auslegung des Neuen Testaments, Theol. Fakultät, Universität Luzern
In diesem LINK finden Sie zur Serie Anregungen zur Bibelarbeit bzw. das Markus-Evangelium, farblich markiert in den gelesenen und nichtgelesenen Texten im Lesejahr B.