Der Bürgerkrieg in Syrien, der 2011 begonnen hat, „ist mittlerweile die größte humanitäre Katastrophe, die schlimmste Flüchtlingstragödie der jüngeren Geschichte“, sagt Caritas-Nahostkoordinator Stefan Maier. Durch die Krise in Syrien verschärft sich auch die Lage im Libanon. Das Land leidet enorm unter der Last der syrischen Flüchtlinge.
Loreen ist neun Jahre alt. Vor ihren Füßen ist eine Mörsergranate eingeschlagen. Es war am 15. April, um 7:30 Uhr in der Früh, im Hof der armenischen Schule im christlichen Viertel Bab Tuma in Damaskus. Ein Kind wurde bei diesem Angriff getötet, 60 wurden verletzt, 17 davon schwer. Loreen ist eine von ihnen. Ihr wurden beide Beine amputiert. Sie ist jetzt in einem Krankenhaus im Libanon, das von der Caritas Österreich unterstützt wird. Was mit ihr passiert ist, hat sie noch nicht verkraftet. Ihre Verletzungen sieht sie nicht, die Verbände werden regelmäßig hinter einem Paravent gewechselt. Loreen ist jetzt Flüchtling im Libanon. Gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder. Der Vater arbeitet noch in Damaskus und fährt jedes Wochenende in den Libanon, um seine Tochter im Krankenhaus zu besuchen.
Zahlen
Es sind inzwischen mehr als neun Millionen Menschen, die vor dem Bürgerkrieg in Syrien flüchten. Davon sind 6,5 Millionen Inlandsflüchtlinge und 2,9 Millionen Syrer, die in den Nachbarländern der Region Schutz gesucht haben. „Es ist die schlimmste Flüchtlingstragödie der jüngeren Geschichte. Der Bürgerkrieg, der bereits ins vierte Jahr geht, hat offiziell 160.000 Todesopfer gefordert. All diejenigen, die in den Folterkellern des syrischen Regimes umgebracht wurden, sind da nicht mitgerechnet“, berichtet Caritas-Nahostkoordinator Stefan Maier. „Wovon niemand spricht, ist die Tatsache, dass mindestens 200.000 Personen bisher in Syrien zu indirekten Kriegsopfern wurden. Sie sind ums Leben gekommen, weil die medizinische Versorgung zusammengebrochen ist. Ärzte und Krankenschwestern haben vielfach das Land verlassen. “
Last der Flüchtlinge
Die Syrer sind gerade dabei, die Afghanen als weltweit größte Flüchtlingsgruppe abzulösen. Vom Flüchtlingsstrom aus Syrien am schlimmsten betroffen ist der Libanon mit 1,1 Millionen registrierten Flüchtlingen. Jeden Tag kommen weitere 2500 über die Grenze. „Das ist für das Land, das kleiner ist als Tirol, 4,5 Millionen Einwohner hat und seit Jahrzehnten fast eine halbe Million palästinensische Flüchtlinge, tausende irakische, sudanesische und somalische Kriegsflüchtlinge beherbergt, enorm belastend. Zusätzlich gibt es noch 200.000 ausländische Gastarbeiter und Migranten aus den ärmsten Ländern Afrikas und Asiens“, sagt Stefan Maier. In Europa wurden bislang weniger als 100.000 syrische Flüchtlinge aufgenommen. Der Libanon dagegen hat im Verhältnis zur eigenen Bevölkerungszahl die meisten Flüchtlinge weltweit ins Land gelassen. „Das kann kein Land der Welt auf Dauer aushalten.“ Es fehlt an Geld. Diese riesige und ständig größer werdende Zahl an Flüchtlingen stellt das Gastland Libanon und die dort tätigen Hilfsorganisationen vor gewaltige Herausforderungen. „Das größte Problem ist die Masse der Flüchtlinge, die alles erdrückt. Die Hilfsorganisationen stoßen an ihre Grenzen. Allein die Menschen mit Lebensmitteln zu versorgen, sie medizinisch und psychologisch zu betreuen und sich um die Schulbildung der Kinder zu kümmern, wird zunehmend schwieriger. Da der Bedarf steigt, werden die finanziellen Lücken immer größer.“ Mittlerweile gibt es 1200 provisorische Flüchtlingslager im Land. Nach wie vor dürfen offiziell keine Lager eingerichtet und geleitet werden. So gibt es Ansammlungen von Hütten, selbstgemachten Zelten aus Abfallmaterialien, wo die Leute bis zu 200 Dollar pro Monat für den Grund, auf dem sie ihr Zelt aufstellen, Miete zahlen müssen. Jene, die sich das nicht leisten können, haben keine andere Chance, als in Ruinen Unterschlupf zu finden.
Hunger als Kriegswaffe
In Syrien selbst hat indes der Hunger Einzug gehalten, sagt Stefan Maier. Wegen der Dürre im Land, wegen unterbrochener Transportwege, wegen Kriegshandlungen auf und Verminung von Feldern, die deshalb nicht bestellt werden können. Darüber hinaus wird Hunger auch als Kriegswaffe eingesetzt. „Stadtviertel, Ortschaften und Dörfer sind zum Teil seit Monaten, teilweise seit über einem Jahr einer erbarmungslosen Blockade durch Rebellen ausgesetzt. Ich habe bei meinem jüngsten Besuch im Libanon eine junge Lehrerin getroffen, die kurz zuvor aus Muadamiyah, einem Stadtteil von Damaskus, entkommen konnte. Das ist eine dieser Regionen in Sichtweite des Präsidentenpalastes, nur ein paar Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, wo die Bevölkerung vom Regime ausgehungert wird. Sie hat erzählt, dass mehrere Kinder, die sie früher unterrichtet hat, schon gestorben sind durch Kampfhandlungen oder weil sie dort verhungert sind.“ Die Caritas Österreich leistet auch in Syrien selbst Hilfe und unterstützt das lokale Caritas-Team in mehreren Projekten.
Kein Ende der Krise
Die Verhandlungen in Genf zur Beilegung des Konflikts in Syrien sind gescheitert. Die Lage ist verfahren. „Nicht umsonst haben zwei kompetente UNO-Sonderbeauftragte für Syrien das Handtuch geworfen. Es ist so viel Blut vergossen worden und es hat sich enorm viel Hass aufgebaut, ich weiß nicht, wie das weitergehen soll“, sagt Stefan Maier. Er befürchtet anhand der derzeitigen Lage, dass der Konflikt „noch sehr viel mehr Opfer, Zerstörung, Not und Elend über die Bevölkerung bringen wird. Das könnte so lange weitergehen, bis alle Seiten so ausgeblutet sind, dass sie einfach nicht mehr können. Und dieser Punkt ist noch lange nicht erreicht. Im viel kleineren Libanon hat das damals 16 Jahre lang gedauert.“
Hilfe
Die Caritas-Hungerkampagne startet derzeit in Österreich. Heuer stehen sowohl die von einer Hungerkatastrophe bedrohte Bevölkerung Afrikas als auch die Syrienflüchtlinge im Mittelpunkt. Versorgt werden die Flüchtlinge von der Caritas im Libanon, in Jordanien und auch in Syrien mit Lebensmittelpaketen, Hygieneartikel, Decken, Ma- tratzen, Kleidung und medizinischer Hilfe. Caritas-Nothilfe Syrien: PSK-Konto IBAN: AT92 6000 0000 0770 0004; BIC: OPSKATWW
Syrienkrise belastet Libanon
Die Flüchtlingsmassen aus Syrien haben auch dramatische Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung des Libanon. Das berichtet Najla Chahda, Leiterin des Flüchtlingsbüros der Caritas Libanon.
Laut einer Studie der Weltbank „hat die Wirtschaft im Libanon bisher Verluste von 7,5 Milliarden Dollar erlitten. Jedes Jahr des syrischen Konfliktes, er geht jetzt in das vierte, hat im Libanon mit 4,5 Millionen Einwohnern einen Rückgang des Wirtschaftswachstums um 2,9 Prozent verursacht. Die Armutsrate hat sich dadurch verdoppelt. Die Inflation wird angeheizt. Seit Ausbruch des Bürgerkrieges 2011 in Syrien sind im Libanon die Mietpreise zwischen 200 und 400 Prozent gestiegen“, sagt Najla Chahda. Die Direktorin der Caritas Libanon ist derzeit in Österreich und berichtet über die dramatischen Auswirkungen des syrischen Flüchtlingsstroms auf die Bevölkerung im Libanon.
Spannungen
Was den Arbeitsmarkt im Libanon betrifft, so finden die Leute legal kaum noch Jobs, da ein Überangebot herrscht. Das habe gewaltige Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Libanesen und Syrern, berichtet die Caritasdirektorin. „Wenn reihenweise Libanesen ihre Arbeit verlieren und ihnen gesagt wird, für das gleiche Gehalt werden statt eines Libanesen drei Syrer eingestellt, dann trägt das nicht zur Entspannung der Lage bei. Die Einheimischen verhalten sich gegenüber den syrischen Flüchtlingen immer aggressiver und machen sie für die schlechte wirtschaftliche Entwicklung im Land verantwortlich.“
Folgen des Kriegs
Ein weiteres Problem ist, dass der Libanon selbst 16 Jahre Bürgerkrieg hinter sich hat (1975–1991). „In Folge reichte alles, das vom Staat zur Verfügung gestellt wird – Infrastruktur, Strom, Wasser, Schulen –, schon vor Beginn der syrischen Flüchtlingskrise nicht einmal für die eigene Bevölkerung aus. Durch den immensen Zuzug der Flüchtlinge mit derzeit 1,1 Millionen stellt das eine zusätzliche Belastung dar“, sagt Chahda.
Schulproblematik
Sechs von zehn Kindern, die jetzt im Libanon geboren werden, haben syrische Eltern. Inzwischen gibt es im Land mehr syrische Kinder im schulpflichtigen Alter (400.000) als libanesische. Schwierigkeiten gibt es daher auch in den Schulen. Das betrifft u. a. die Finanzen, den Transport, die überfüllten Klassen und generell auch das Schulsystem, da sich das libanesische vom syrischen erheblich unterscheidet. Obwohl der Libanon ein arabisches Land ist, werden alle Fächer auf Französisch oder Englisch unterrichtet, hingegen in Syrien nur auf Arabisch, erklärt Najla Chahda. „Allein das ist ein gewaltiges Hindernis für die syrischen Kinder.“
Schuljause
In einem von der Caritas Österreich unterstützten Pilotprojekt in zwei Schulen im Norden des Libanon, an der Grenze zu Syrien, werden Schuljausen verteilt. „Da es sich um arme Regionen handelt, wo auch die einheimische Bevölkerung dringend Hilfe braucht, machen wir natürlich keine Unterscheidungen zwischen libanesischen und syrischen Kindern“, sagt Stefan Maier von der Caritas Österreich. Man müsse, damit der Hass auf die Flüchtlinge nicht zu groß wird, auch den Einheimischen das Gefühl geben, dass sie in irgendeiner Form profitieren. „Das hat sich sehr bewährt.“