Wort zum Sonntag
Die angekündigte Sozialenzyklika „Fratelli tutti“ wurde mit Spannung erwartet. Der Text hat etwa 80 Seiten plus 15 Seiten Fußnoten. Gibt es für Sie Überraschungen in der Enzyklika?
Wolfgang Palaver: Große Überraschungen sind nicht drinnen, weil der Text die Summe von vielem ist, was der Papst bereits gesagt hat, in Reden, Predigten, oder auch im Dokumentarfilm von Wim Wenders. Das einzige Überraschende ist vielleicht, dass es keine „Corona-Enzyklika“ ist, als die sie im Vorfeld gehandelt wurde. Der Papst spricht darin Probleme an, die vor Corona, neben Corona und nach Corona vor uns stehen. Wer das Wort „Virus“ sucht, findet im Dokument vor allem den überzogenen Individualismus und Rassismus. Das Dokument ist gegen nationalistisch-rassistische Abschottung geschrieben und gegen einen individualistisch-egoistischen Konsumismus, der sich für die, denen es schlecht geht, nicht interessiert. Das sind die beiden Viren, die Papst Franziskus im Visier hat und die er in verschiedenster Weise anspricht.
Wie viel dieser Enzyklika schrieb der Papst selbst, was überließ er Zuarbeitern?
Palaver: Genau weiß ich es nicht, aber die Endfassung hat er wohl nicht geschrieben. Es ist ein Kompilat von zig Texten, Predigten, die er bereits geschrieben hatte. Seine Handschrift ist insofern stark zu spüren. Es ist sehr viel aus dem Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium von 2013 dabei, aus Laudato si’, aus dem Brüderlichkeitsdokument von Abu Dhabi 2019, von Reisen, ergänzt durch – was er immer macht und sehr sympathisch ist – Dokumente verschiedenster Bischofskonferenzen, Kroatien etwa oder Südkorea, Argentinien ... Da versucht er, Stimmen der Weltkirche in seine Enzykliken einfließen zu lassen.
Wie liest sich die neue Enzyklika „Fratelli tutti“ aus Ihrer Sicht?
Palaver: Die vielen Zitate machen es ein bisschen schwierig, weil man bei jedem Gedanken übers Anführungszeichen stolpert. Ein Kernstück ist aber das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das sehr umfassend ausgelegt ist. Da sind weniger Zitate, dadurch ist es zugänglicher. Die Enzyklika hat wenig komplexe Themen drinnen. Papst Franziskus hat einen leicht zirkulären Schreibstil, sodass er Themen umkreist und darauf immer wieder zurückkommt. Manche Gedanken finden sich mehrmals im Text.
Wie bei Papst Franziskus üblich, nimmt er auf Franz von Assisi Bezug. Zum Beispiel, wenn er an dessen friedliche Begegnung mit dem Sultan Malik al-Kamil in der von Kreuzfahrern belagerten ägyptischen Hafenstadt Damiette erinnert.
Palaver: Ja, Franziskus sieht sich in der Spur von Franz von Assisi. In der Zeit der Kreuzzüge war es ein extremes Risiko, dort durch die Fronten zu gehen und damit das Leben aufs Spiel zu setzen. So schlimm ist es Gott sei Dank heute nicht. Aber wenn man die allgemeine Stimmung hört, dann war es auch eine sehr gewagte Sache, dass Papst Franziskus und der Kairoer Großimam Ahmad Mohammad Al-Tayyeb 2019 in Abu Dhabi das gemeinsame „Dokument über die Geschwisterlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt“ verfassten. In der Enzyklika kommt Al-Tayyeb fünfmal vor. Der Dialog mit dem Islam ist Papst Franziskus wirklich wichtig. Seine Botschaft ist: Wir sollen keine Angst haben vor dem Dialog.
Da gibt es unter Katholiken aber Widerstände.
Palaver: Ja, und nicht nur unter den Katholiken. Man muss ja kein Fan von Erdogan sein. Man muss aber das größere Ganze im Blick behalten. Türkisch-islamische Leute gelten in Österreich grundsätzlich als verdächtig, egal, was sie tun oder was man ihnen unterschiebt.
Welche Themen der Enzyklika halten Sie neben dem prophetischen Schwerpunkt des christlich-islamischen Dialogs noch für zentral?
Palaver: Den Gedanken des Polyeders. Es symbolisiert die Welt nicht als Kugel mit einheitlicher Oberfläche, sondern mit einer Oberfläche aus vielen verschiedenen Flächen. Der Papst sagt immer wieder deutlich, auch in der neuen Enzyklika: Es braucht eine universale Haltung, die mit dem Lokalen in Verbindung geht. Das Bild dürfe nicht eine Kugel sein mit der Vorstellung der gleichmachenden Integration. Er stellt dem das Polyeder entgegen, den Vielflächer. Wo eine Einheit da ist – das Ganze ist ihm wichtiger als die Teile! Das ist eines seiner Grundprinzipien. Aber das heißt nicht, dass alles gleich sein muss. Er stellt sich eine Welt vor, wo lokale Traditionen, Kulturen, Sprachen, Religionen eine Einheit in Verschiedenheit leben. Er macht das auf globaler Ebene deutlich und für den innergesellschaftlichen Dialog. In dem Sinn kann man sagen, Vorstellungen von Integration, dass etwa alle in Österreich die eine österreichische Kultur leben, gehen nicht nur an der Realität vorbei, sondern sind falsch. Das Zusammenspiel von Kultur, von Haltungen, von Traditionen, muss nicht vereinheitlicht werden, sondern lebt Einheit in Vielheit. Der Papst vertritt den „Glokalismus“, die Verbindung von global und lokal.
Dialog und Vielfalt sind Papst Franziskus wichtig. Worauf kommt er in der Enzyklika noch zu sprechen?
Palaver: Ein anderes Thema ist Vergebung. Papst Franziskus betont, wie wichtig Vergebung ist, ohne zu vergessen. Die Shoa oder Hiroshima oder den Sklavenhandel einfach wegschieben und sagen, es war nichts, ist falsch, weil es das Leiden der Opfer auslöschen würde. Vergeben heißt, nicht dem Zorn oder der Rache nachzugeben. Die Wahrheit des Unrechts, des Leids muss auf den Tisch, aber nicht als Anfeuerung von Rache und Vergeltung. Sondern es soll öffnen zur Versöhnung. Bis hin zu dem radikalen Gedanken, dass lebenslange Haftstrafen nichts anderes sind als eine versteckte Todesstrafe. Das halte ich für mutig. Es zeigt das Menschenbild des Papstes: Dass er immer wieder sagt, wir müssen doch versuchen, Menschen, die schwer schuldig geworden sind, zu heilen. Jene Kräfte wachzurufen, die wieder ein Zusammenleben möglich machen. Das ist natürlich schwierig. Ich hatte einen provokanten Gedanken: Wenn der Papst so weit vorausdenkt, erinnert er mich an John Lennons Lied „Imagine“. In der Enzyklika steht sehr oft das Wort „Traum“. John Lennon sang auch: „You may say I‘m a dreamer, but I‘m not the only one.“ Er lud Leute ein, mit ihm zu träumen von einer universalen Geschwisterlichkeit. Der Unterschied ist: Der Papst sieht, wie schwierig das ist. Dass es die tägliche Anstrengung braucht, dass es Hingabe braucht. Zu Lennons Zeiten dachte man noch, es gehe automatisch.
Auch „Laudato si’“ war teilweise sehr poetisch.
Ja, poetisch ist „Fratelli tutti“ an manchen Stellen auch. Der Papst betont aber, dass es keine unmöglichen Utopien sind, sondern Utopien, die eine Chance haben und denen wir eine Chance geben sollen.
Was fehlt in „Fratelli tutti“?
Ich würde umgekehrt sagen: Es ist zu viel drinnen. Wenn ich solche Dokumente lese, mache ich mir Stichworte. Die Stichworteliste dieser Enzyklika ist unendlich lange! Weil es fast nichts gibt, was nicht drinnen ist. Es ist wirklich eine Summe.«
Großimam. Mit „Fratelli tutti“ gebe Papst Franziskus der Menschheit ihr Gewissen zurück, zeigte sich der sunnitische Großimam der Kairoer Al-Azhar-Universität, Ahmad al-Tayyeb, erfreut und erinnerte zur Enzyklika-Veröffentlichung an das Dialogpapier von Abu Dhabi, das der Papst und er im Februar 2019 unterzeichnet hatten.
Sozialethikerin. Der Papst kritisiere die mangelnde universale Realisierung der Menschenrechte, so die Wiener Sozialethikerin Ingeborg Gabriel, „vor allem der sozialen Rechte, der Frauenrechte und der Religionsfreiheit, sowie Formen moderner Sklaverei“.
Bischofskonferenz-Vorsitzender. Mit seiner neuen Sozialenzyklika „Fratelli tutti“ mahne Papst Franziskus, „groß und tief zu denken, dabei Grenzen zu überschreiten und dennoch nicht den Blick für das Kleine und Hilfsbedürftige zu verlieren“. Genau das meine „soziale Freundschaft“, erklärte Erzbischof Franz Lackner.
Wirtschaftsforscher. Der Präsident des Münchner ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, Clemens Fuest, ist enttäuscht. „Das Wettern gegen Märkte und angeblichen Neoliberalismus ist die größte Schwäche des Papiers.“
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