Plaza de Armas 444, im Herzen Santiagos, galt nahezu zwei Jahrzehnte als die Adresse für Opfer der chilenischen Militärdiktatur. Denn am „Platz der Waffen“, unmittelbar neben der mächtigen Kathedrale, war von 1976 bis 1992 die Zentrale für das „Vikariat der Solidarität“, das mit seiner Arbeit Tausende von Opfern vor Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte bewahrt hat und weltweit als das Symbol für den Widerstand gegen Diktator Augusto Pinochet galt.„Angefangen hat das Engagement der Kirche unmittelbar nach dem blutigen Militärputsch, als sich die Angehörigen unzähliger Verschwundener und Getöteter hilfesuchend an die Kirche wandten“, sagt Georg Heidlmair. Der aus Oberösterreich stammende Theologe arbeitet derzeit an einer wissenschaftlichen Arbeit über das Solidaritäts-Vikariat. Die Kirchen reagierten rasch und gründeten bereits vier Wochen später das „Ökumenische Komitee für den Frieden“. Doch den Militärs wurde diese Einrichtung zum Ärgernis und kurzerhand aufgelöst, ihr Vizepräsident, der evangelische Bischof Helmut Frenz, ein Deutscher, des Landes verwiesen. Daraufhin rief Kardinal Raúl Silva Henríquez das „Vikariat der Solidarität“ ins Leben. Um zu zeigen, wie wichtig dem katholischen Oberhirten die Menschenrechtsarbeit war, machte er in seinem Haus Platz für das Büro.Der Nerv der Diktatur„Im Folterstaat wurde die Kirche zur Stimme der Armen und Geschlagenen. Ihre Arbeit war eine Pastoral der Menschenrechte“, sagt Heidlmair. Angesichts der Brutalität der Militärs hatten fast alle Bischöfe diesen Kurs mitgetragen, auch wenn sie den Kontakt zu Pinochet und seinen Leuten nicht ganz hatten abbrechen lassen. Zur wichtigsten Aufgabe des Solidaritäts-Vikariats zählte die juristische Abteilung. „Mit dieser Arbeit hat man den Nerv der Diktatur getroffen.“ Bis ins Detail versuchte man jede Menschenrechtsverletzung zu dokumentieren und jede rechtliche Chance zu nutzen, um Folteropfer freizubekommen oder Spuren von Verschwundenen offenzulegen. Aufgrund dieser Arbeit gilt die Kirche heute als einzige Institution in Chile, die eine relativ vollständige Dokumentation über die Verbrechen der Pinochet-Ära besitzt.Essen für 30.000 KinderVielfach unterschätzt werden im Rückblick weitere Aufgaben des Vikariats, wie beispielsweise die Sozialarbeit. Die Aufrechterhaltung des Unterdrückungsapparates verschlang Unsummen und ging auf Kosten der Gesundheits-, Bildungs- und Sozialausgaben. Um der prekären Ernährungslage in den Slums am Stadtrand Santiagos entgegenzuwirken, wurden über 300 „Comedores“ eingerichtet. In diesen „Speisesälen“ erhielten täglich über 30.000 Kinder eine warme und für die meisten die einzige Mahlzeit. Zu den weiteren Aufgaben zählten die psychologische Betreuung von Haftentlassenen und Folteropfern oder die Werkstätten und Läden, in denen viele Angehörige von Verhafteten oder Verschwundenen einen Arbeitsplatz fanden. Und alle zwei Wochen erschien die Zeitschrift „Solidarität“, die den Kontakt zwischen den einzelnen Gruppen herstellte. Unter dem Motto „Die Wahrheit wird uns frei machen“ vermittelte sie Nachrichten, die der Junta nicht angenehm waren.Auch die Arbeit des Solidaritäts-Vikariats blieb von Repressionen und Morden nicht verschont. Und der mit christlichem Sendungsbewußtsein ausgestattete Augusto Pinochet verheimlichte nicht, was er von der Arbeit der Kirche hielt. Vor versammelter Auslandspresse sagte er 1984 über den Leiter des Vikariats, dieser sei „kommunistischer als die Kommunisten“.Das Aus für das VikariatDas Aus für das Vikariat der Solidarität kam im Dezember 1992. Nach Ansicht der Kirche habe sich die Arbeit mit dem Übergang zur Demokratie erübrigt; nun könne sie sich wieder ihren zentralen Aufgaben widmen. Geblieben ist ein stark verkleinertes und finanziell gekürztes „Vikariat für Sozialpastoral“. Wirkliche Versöhnung, der Anteil der Pinochet-Anhänger wird auf ein Drittel der Bevölkerung geschätzt, kann nur auf Grundlage von Wahrheit und Gerechtigkeit erfolgen. Dazu gehören auch die Aufklärung der noch offenen Fälle von Menschenrechtsverletzungen sowie die Suche nach den Gräbern der Verschwundenen. Heidlmair: „Heute fehlt den Angehörigen der Opfer und Verschwundenen eine starke Stimme.“Das Schweigen der HirtenEs ist schon verblüffend, daß gerade die Spanische Bischofskonferenz das Verfahren gegen Pinochet begrüßt – „hervorragend, daß es auch für hochrangige Staatsvertreter keine Straflosigkeit gibt –, die Mitbrüder in Chile jedoch dazu schweigen. Und das, obwohl gerade die Kirche Chiles zur Zeit der Diktatur die Stimme der Gefolterten und Gefangenen war und als einzige Opposition die Junta mit der Wahrheit konfrontierte. Diese Art der Kirche geprägt hat das Treffen der lateinamerikanischen Bischöfe von Medellin vor 30 Jahren. Sie betonten: Wir gehen mit den Entrechteten. Und von Argentinien bis Mexiko wuchs eine Kirche, die in vielen Fällen erstes Ziel für Angriffe der Militärs war.Umso unverständlicher ist das Schweigen der Kirche zur blutigen Geschichte des Kontinentes. Auch bei der Aufarbeitung der Vergangenheit brauchen die Armen eine starke Verteidigerin. Oder hat die neue Generation von Bischöfen gelernt, sich aus derart politischen Fragen herauszuhalten?