Heilsam leben. Mit Hildegard von Bingen, Reihe Teil 5 von 6
Was kann man tun, wenn Spaltungen Kirche und Gesellschaft bedrohen und die Moral aus den Fugen gerät?
Hildegard begann 1158 mit ihrem zweiten Visionswerk „Liber vitae meritorum“ (Der Mensch in der Verantwortung) und arbeitete fünf Jahre daran. Der Grund für die Niederschrift einer praxisbezogenen Ethik lag auf der Hand. Der Streit zwischen Kaiser und Papst lähmte die Gesellschaft und auch in der Kirche stritt man darüber, wo der rechte Weg verläuft. Auf ihren Predigtreisen und Klöster-Visitationen hatte die Benediktinerin hautnah erlebt, vor welchen Schwierigkeiten die Menschen standen. Die Probleme im Umgang mit Regeln waren offensichtlich. Viele hatten das Gefühl dafür verloren, von welchen Kräften sie sich leiten ließen. Hildegards „Rezept“ gegen die allgemeine Orientierungslosigkeit war ebenso einfach wie wirkungsvoll. Sie brachte die widerstreitenden Kräfte miteinander ins Gespräch.
Den Alltag in Ordnung bringen. In der Psychotherapie kennen wir heute ganz ähnliche Konzepte. So etwa lernen wir in der sogenannten Familienaufstellung unsere Funktion in dem sozialen Netzwerk kennen, das uns am meisten prägt. Indem wir den einzelnen Rollen, die wir im Leben spielen, eine Stimme geben, ihre Bedürfnisse, Wünsche und Fragen formulieren, können wir einen Ausgleich der Interessen und eine Versöhnung einander widersprechender Ansprüche erreichen. Hier setzt Hildegards Ethikkonzept an. Sie gibt den positiven und negativen Kräften eine Stimme, lässt sie quasi laut reden. Spannend für uns heute ist, wie unmittelbar wir in den Lastern, die sie zu Wort kommen lässt, gute alte Bekannte entdecken, während die Tugenden uns ungleich sperriger erscheinen. Im Echo, das die Worte der einzelnen Kräfte in uns hervorrufen, lernen wir unseren Standort besser kennen, können orten, welche von ihnen unser Leben bestimmen, um dann darüber zu entscheiden, ob der Raum, den sie sich genommen haben mit dem übereinstimmt, den wir ihnen zugestehen möchten.
Die neue Perspektive. Hildegards Ethikbuch hat sechs Teile. Im Gegensatz zu ihren anderen Visionswerken durchzieht eine einzige Schau das gesamte Buch. Das, was sie sieht, wird aber in jedem Teil des Werkes aus einer anderen Perspektive betrachtet. Wäre der „Liber vitae meritorum“ eine Komposition, würde man seinen Aufbau als „Thema mit Variationen“ bezeichnen. Durch den Perspektivwechsel erscheint das eine Bild jedes Mal in einem anderen Licht. Die Sechszahl seiner Teile hat auch eine symbolische Bedeutung. Sie bezieht sich auf das Christusmonogramm. Das griechische Chi und Ro (für die Christos) sehen in der lateinischen Schrift wie X und P aus und bilden – ineinander verschlungen – sechs Arme. Was Hildegard damit ausdrücken will, ist: Der innere Bezugspunkt all unseren Bemühens ist Christus. Von ihm haben die positiven Kräfte ihre Energie und in seiner Kraft können wir die negativen Einflüsse überwinden.
Die Kräfte ins Spiel bringen. Als Hildegard ihr Ethikbuch schrieb, hatte sie bereits einige Erfahrung mit der praktischen Umsetzung des Ausgleichs der inneren Kräfte. In ihrem „Ordo virtutum“ hatte sie die Tugenden, die Laster und ihr Ringen um die Seele bereits wirkmächtig inszeniert. Thema dieses musikalischen Theaterstückes ist ein exemplarischer Lebensweg. Protagonisten sind die Seele, 15 Kräfte, die Heiligen des Alten Bundes und der Teufel, der als Diabolus, als Durcheinanderwerfer bezeichnet wird. In dem fünfteiligen Spiel erlebt die zunächst glückliche Seele, wie schwer der gute, zu Gott führende Weg sein kann. Zermürbt öffnet sie sich für die Argumente des Durcheinanderwerfers, der sie auffordert, den engen Weg der Tugend zu verlassen und es sich auf dem breiten Weg bequem zu machen. Die guten Kräfte zeigen sich im innersten Kern des Spiels der hoffnungslosen, in sich verkrümmten Seele und es gelingt ihnen, sie nach und nach aufzurichten.
Lebenshilfe im Kloster. Das Spiel der Kräfte wurde von Hildegard und ihren Schwestern im neu errichteten Kloster auf dem Rupertsberg aufgeführt. Der Konvent hatte zu dieser Zeit eine schwierige Phase hinter sich. Der Klosterneubau hatte von den Schwestern Verzicht auf zahlreiche Annehmlichkeiten verlangt. In der ersten Zeit lebten die Nonnen ohne Heizmöglichkeiten in Holzhütten und arbeiteten selbst auf dem Bau mit. Einige der adeligen Frauen konnten sich damit nicht arrangieren. Es kam zu Streitigkeiten und viele verließen das Kloster. Die Konzentration auf die guten, die Gemeinschaft aufbauenden Kräfte und ihre wirkmächtige Inszenierung hatte für Hildegard und ihre Schwestern also durchaus einen Sitz im Leben.
Das „Gespräch der Kräfte“
Die Schlemmerei spricht: Gott hat alles geschaffen, warum also sollte ich es mir an irgendetwas fehlen lassen? Wüsste Gott nicht, dass man dies alles brauchte, so hätte er es nicht gemacht. Ich wäre ja verrückt, wenn ich vor all den schönen Dingen nicht meiner Lust folgen wollte …
Die Enthaltsamkeit antwortet: Kein Mensch würde seine Zither so schlagen, dass ihre Saiten springen! Sind nämlich ihre Saiten einmal gesprungen, was bliebe dann von ihrem Klang? Gar nichts! … Wie nämlich ein heftiger Regenguss das Land umwühlt, so bringt der unmäßige Genuss von Fleisch und Wein dem Menschen nur gotteslästerliche Verblendung ein.
Die Schwermut spricht: Was ist noch mein Heil, wenn nicht Tränen? Was für ein Leben habe ich, wenn nicht Schmerz? Und was wird meine Hilfe sein, wenn nicht der Tod? Welche Antwort wird mir werden, wenn nicht das Verderben?
Die Seligkeit antwortet: Du bist geradezu süchtig auf Peinigung und willst wohl nichts anderes mehr. Gott will angerufen sein und seine Güte sollte man aufsuchen. Du missgönnst dir dich selbst, da du nicht auf Gott vertraust. Von Gott forderst du nichts, weshalb du auch nichts findest.
Leben mit Hildegard
Für Hildegard spielte sich ihr Leben mit Gott mitten in der Welt ab. Sie sah es als selbstverständlich an, soziale Verantwortung zu übernehmen. Christin sein, war für sie keine theoretische Angelegenheit. Ein Beispiel aus ihrer Lebensgeschichte macht dies deutlich. Im Rheingau lebte eine adelige Frau namens Sigewiza, die unter einer psychischen Erkrankung litt. Ihre Verwandten suchten für sie Hilfe bei denen, die für die Heilung der Seele zuständig waren, bei den Priestern. Aber weder sie noch die Mönche eines benachbarten Klosters konnten ihr wirksam helfen. Da schrieb der Abt des Klosters an Hildegard und bat sie um ein Gebet für Sigewiza. Sie antwortete ihm, das Gebet wurde gesprochen und befreite die Frau eine Zeit lang von ihrem Leiden. Als sie wieder erkrankte, bat sie darum, zu Hildegard gebracht zu werden. Hildegard nahm sie in ihr Kloster auf, sprach jeden Tag mit ihr, ließ sie ungeachtet ihrer lautstarken Beschimpfung der Kirche auch öffentlich sprechen und motivierte die Menschen ihres Landkreises, für Sigewiza zu beten und Spenden für sie zu sammeln. Und die Solidarität einer ganzen Region hatte Erfolg. In der Feier der Osternacht wurde die Frau geheilt.