Angesichts der Flüchtlingsströme nach Europa und den sexuellen Übergriffen gegen Frauen durch Migranten wächst in Teilen der europäischen Bevölkerung die Angst vor Fremden. Woher sie kommt, darauf versucht der Psychoanalytiker Micha Hilgers Antworten zu geben.
Immer mehr Menschen flüchten nach Europa. Im Zuge dessen wächst auch die Angst vor Flüchtlingen. Warum?
Micha Hilgers: Sozialpsychologisch gesehen ist es ein uralter Hut, wenn sehr rasch sehr viele Neuankömmlinge in einem Land hinzukommen, dann fühlt sich die Bevölkerung bedroht in ihrer Identität und ist verunsichert. Insbesondere dann, wenn diese Neuankömmlinge sich vom Aussehen, von den Werten, von der Sprache und von der Kultur deutlich von der Großgruppe unterscheiden – was derzeit der Fall ist beispielsweise in Österreich und in Deutschland.
Seit den sexuellen Übergriffen gegen Frauen zu Silvester ist die Stimmung überhaupt gekippt ...
Micha Hilgers: Ja, das ist ein Wendepunkt. Die Aufmerksamkeit ist seitdem eine ganz andere. Aber das sind Ereignisse, die lange vorhersehbar waren. Solche Vorfälle werden registriert, es gibt Statistiken darüber, dass es bestimmte Migrationsgruppen vor allem aus Nordafrika gibt, die viele Intensivtäter hervorbringen – das sind Täter, die schon mehrere Straftaten begangen haben. Seit Silvester gibt es nun täglich Berichte in den Medien über Kriminalitätsprobleme bei dieser, ich betone, Minderheit. Vorher gab es diese Meldungen nicht. Das hat zu einem Umkippen der Stimmung in großen Teilen der Bevölkerung beigetragen. Von einem auf den anderen Tag. Und wenn sie die Geschwindigkeit sehen, mit der plötzlich neue Gesetze beschlossen werden, die Abschiebungen beschleunigen sollen, von denen jeder weiß, dass sie so nicht funktionieren werden, dann sehen Sie, dass da etwas ganz Entscheidendes passiert ist. Wenn die Zahnpasta einmal aus der Tube ist, dann geht sie nicht mehr zurück. Die Willkommenskultur, die es vorher gab, wird es so nicht mehr geben, trotz allen weiterhin bestehenden ehrenamtlichen Engagements vieler Bürgerinnen und Bürger.
Wieso nicht?
Micha Hilgers: Wir erinnern uns an die Bilder aus dem Fernsehen, wo Leute auf den Bahnhöfen standen, applaudierten und die Flüchtlinge willkommen hießen. Das war eine Idealisierung. Man sah die Ankommenden als reine Opfer, man glaubte, sich mit ihnen identifizieren zu können. Aber kein Mensch ist nur Opfer. Dieser Art von Idealisierung steht die Verteufelung diametral gegenüber. Die beiden sind siamesische Zwillinge. Das eine kippt ins andere. Das erleben wir gegenwärtig. Die Lösung wäre Ambivalenz, denn sie ist das Tor zur Humanität. Ambivalenz bedeutet, dass ich die Facetten sehe und damit auch die Schattenseiten derer, die ich am Bahnhof begrüße.
Viele Menschen bieten nach wie vor Flüchtlingen ihre Hilfe an ...
Micha Hilgers: Es besteht immer noch ein erhebliches Engagement in der Bevölkerung, aber das ist freiwillig. So etwas lässt sich allerdings nicht über Jahre aufrechterhalten. Es ist unverantwortlich, dass wir wesentliche Versorgungen auf Freiwillige abschieben und darauf hoffen, dass ihnen nicht die Puste ausgeht.
Was tun, um Ängste nicht zu schüren?
Micha Hilgers: Kurzfristig gibt es darauf keine einfache Antwort. Auf der einen Seite muss massiv gegen Straftäter unter den Flüchtlingen vorgegangen werden und auf der anderen Seite massiv gegen jede Art von Übergriffen gegenüber Flüchtlingen. Beides erfordert einen hohen Personalaufwand. Hier in Deutschland wird plötzlich festgestellt, hoppla, wir haben bei der Polizei gespart. Auch das lässt sich kurzfristig nicht lösen. Wir werden einen langen Prozess der Auseinandersetzung haben, sowohl was die Integration von Flüchtlingen und den damit zusammenhängenden Problemen betrifft, als auch mit anwachsenden Gruppierungen von Rechtsradikalen, die Ängste schüren. Politiker werden sich auch in den Medien mit rechten Gruppierungen und ihren Argumenten auseinandersetzen müssen. Es fehlt an klaren Äußerungen, dass Menschen das Recht haben, um Asyl anzusuchen. Man muss die Protagonisten der Fremdenfeindlichkeit auseinandernehmen, sich ihnen stellen und sie in den Medien mit ihren Argumenten vorführen. Die Sympathisanten jedoch darf man niemals demütigen und beschämen, um sie nicht für immer zu verlieren.