Lasst die Vergangenheit endlich ruhen! – Mit dieser Forderung können Forscher/innen der Zeitgeschichte wenig anfangen. Warum wollen sie an schmerzliche Ereignisse erinnern? Ein Gespräch mit dem Heimatforscher und Autor Gottfried Gansinger.
Ausgabe: 2016/44
31.10.2016 - Christine Grüll, René Jo. Laglstorfer
Interview: Christine Grüll
Was treibt Sie an, sich mit der Zeit des Nationalsozialismus so intensiv auseinanderzusetzen?
Gottfried Gansinger: Seit meiner Kindheit und Jugend hat mich das Thema interessiert und elektrisiert. Mit 15 Jahren habe ich meine Erinnerungen an die beiden Bombenangriffe auf Ried 1944 und 1945 aufgeschrieben, mit 20 habe ich bei den Pfadfindern schon Vorträge über Hitler, Goebbels und Himmler gehalten. Ich wollte auch wissen, ob das stimmt, woran ich mich erinnern kann. Zum Beispiel, dass meine Mutter und ich dabei waren, als ein Lager der Wehrmacht geplündert wurde, nachdem die Soldaten geflüchtet waren. Seit 2002 habe ich in zahlreichen Archiven Information gesammelt. Das Buch „Nationalsozialismus im Bezirk Ried im Innkreis“ (siehe Kasten) ist nun auch die inhaltliche Grundlage für den geplanten Lern- und Gedenkort in Ried. Das war eine der Ideen für das Hitler-Geburtshaus. Was sagen Sie zur aktuellen Diskussion?
Gansinger: Grundsätzlich wäre es gut, einen Lern- und Gedenkort daraus zu machen. Es geht um die Weitergabe der Geschichte an die nächste Generation. Viele Jugendliche glauben, die Geschichte ist ein Indianerspiel, fast wie in Märchen und Sagen. Sie sollen wissen, welche konkreten Auswirkungen es hat, wenn die Demokratie verliert und ein sogenannter starker Mann die Rechte mit Füßen tritt. Dafür ist es wichtig, dass sie nicht nur intellektuell, sondern vor allem emotional erreicht werden. Wie wirken Ihre Forschungsergebnisse in die heutige Zeit hinein? Gansinger: „Nur was ausgespuckt ist, ist heraußen“, um frei nach dem Theologen und Psychotherapeuten Albert Höfer zu sprechen. Das Verschweigen der Vergangenheit ist wie bei einer Wunde. Sie eitert und gibt keine Ruhe, bis alles aufbricht. Das zeigt sich auch in Familien, die von einer Nazi-Vergangenheit belastet sind. Das andere ist die große Dankbarkeit der Menschen, die damals viel mitgemacht haben. Es gibt ihnen ihre Würde zurück und erzeugt Empathie, wenn sie endlich sagen können, was alles geschehen ist, bis hin zum Mord. Das kann wieder auftreten, wenn auch in einem anderen Gewand. Ich habe die Hoffnung, dass mein Buch zum Mitfühlen verleitet, weil Leute zu Wort kommen, die viele gekannt haben. Leute wie du und ich. «
NS-Zeit im Bezirk Ried
Es ist kein trockenes Forschungsprojekt: Gottfried Gansinger hat für sein Buch über Verfolgung in der NS-Zeit in Ried mit 200 Zeitzeug/innen gesprochen. Es sind ihre Geschichten, die, durch sorgfältige Recherche geprüft, die Vergangenheit lebendig machen. In neun Kapiteln geht der Autor u.a. auf den Terror in der Anfangsphase ein, auf das Netzwerk der Täter in Spitzenpositionen, von denen viele aus dem Bezirk Ried stammten, auf die Euthanasie an Kindern (sie machen mehr als die Hälfte der Todesfälle aus), auf antisemitische und widerständige Priester sowie auf die Verbrechen, die gleichsam in den letzten Minuten des Regimes begangen wurden. Ein umfangreiches Orts- und Namensregister macht das äußerst spannende und berührende Buch zu einer Quelle für Heimat- und Familienforscher/innen.
Zur Sache
Zur Geschichte des Hitler-Geburtshauses
1938 verkaufen die Großeltern der heutigen Eigentümerin Gerlinde Pommer das Haus an die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSDAP, die es zu einem Kulturzentrum mit Volksbücherei ausbaute. 1945 öffneten es die Amerikaner als begehbares Mahnmal mit einer Ausstellung über die Grauen der Konzentrationslager. 1952 bekommen die Pommers das Haus von der Republik Österreich zurückerstattet. Bis 2011 führte es die Lebenshilfe als Tagesheimstätte. Seitdem steht das Haus bei vollen Mietkosten für die öffentliche Hand leer. Voraussichtlich Ende November/Anfang Dezember könnte der Nationalrat ein Gesetz verabschieden, das die Besitzerin enteignen und angemessen entschädigen soll. Mit einer rechtskräftigen Entscheidung vor 2019 ist dennoch nicht zu rechnen, da die Eigentümerin gegenüber einem Vertrauten angekündigt hat, durch alle Instanzen prozessieren zu wollen. Laut Experten könnte sie vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte durchaus Recht bekommen und ihr Eigentum behalten.
„Jägerstätter-Stück“ in New York
Am 1. Dezember 2016 wird Felix Mitterers „Jägerstätter“-Stück im Österreichischen Kulturforum in New York in englischer Sprache uraufgeführt. Regisseur ist der gebürtige Israeli Guy Ben-Aharon.