Vor fünf Minuten bin ich aus dem Auto ausgestiegen und noch ganz bewegt. Warum? Auf meinem Weg in die Redaktion, wo ich derzeit mit Ausnahme einer Kollegin im Sekretariat (mit genügend Abstand) heute alleine arbeiten werde, habe ich den vierten Satz von Schostakowitschs fünfter Symphonie gehört. Das Ende dieses Werkes ist extrem kraftvoll: Fast schon brutal klopft der Paukist (und zum Schluss der Musiker an der großen Trommel) hier einen Jubel hervor. Dabei ist das ein Musikstück mit "doppeltem Boden".
Die Hintergründe: Zunächst in der Gunst der sowjetischen Machthaber, stürzte Schostakowitsch über die Ablehnung seiner Oper "Lady Macbeth von Mzensk" durch Stalin persönlich. Im Jahr 1936 konnte eine derartige Ablehnung und das Fallenlassen den Weg in den Gulag bedeuten, das berüchtigte Straflagersystem der Sowjets. Die ähnlich der Oper gelagerte vierte Symphonie musste Schostakowitsch in der Schublade verschwinden lassen. Statt dessen schrieb er die Fünfte. Offiziell als "praktische Antwort eines Sowjetkünstlers auf gerechte Kritik“ bezeichnet. enthielt er sich darin jener musikalischen Neuerungen, die er zuvor erfolgreich ("Lady Macbeth" war ein Publikumserfolg!) angewandt hatte und schrieb dazu auch das eingangs erwähnte Finale.
Nur: Wer genau hinhört, merkt, dass Schostakowitsch auch für einen erzwungenen Jubel am Sowjetsystem deutlich überzieht. Die Paukenschläge der Schlusscoda gelten - für mich ganz eindeutig - einem anderen Ziel: Hier ist der Komponist zu hören, der ausdrückt: Ich lebe weiter, ich lasse mich nicht unterkriegen, ich finde Wege, mich trotzdem auszudrücken. Während Schostakowitsch persönlich ein eher ängstlicher Mensch war - nicht grundlos, denn nach dem Zweiten Weltkrieg geriet er zeitweise wieder ins gefährliche politische Abseits - drückt seine Musik in der Fünften nicht Angst, sondern lebensbejahenden Trotz aus.
"Lieber trotzig als traurig" - für mich ist das derzeit auch der Soundtrack für die aktuelle Situation, auch wenn diese natürlich mit der Lage in Stalins Sowjetunion keinesfalls auch nur annähernd vergleichbar ist. Es geht da mehr um die Grundhaltung.
Vielleicht haben auch Sie ein Musikstück, das Sie aufbaut?
Übrigens: Am 30. Dezember 1961 wurde auch Schostakowitschs vierte Symphonie uraufgeführt. Insgesamt schrieb der Komponist 15 Symphonien und viele weitere Werke. Sein Trotz hat sich bezahlt gemacht.
Ihr Heinz Niederleitner.