Wort zum Sonntag
Die kommenden EU-Wahlen werden in Medien und in Politik als Richtungsentscheidung bezeichnet. Was macht die Wahlen so wichtig?
Tomáš Halík: Es gibt in Europa eine starke Welle des Populismus und des neuen Nationalismus. Das ist sehr gefährlich. Und was ich für das Wichtigste und Gefährlichste halte: das Putin-Regime führt einen hybriden Krieg gegen den Westen und die Europäische Union. Dieser Krieg wird mit Propaganda und Fake News geführt, er sät Misstrauen gegen Europa und die Demokratie. Besonders zielt dieser Krieg auf die postkommunistischen Länder. Die Russen investieren dabei sehr viel Geld.
Welche Absicht verfolgt dieser Krieg?
Halík: Er will das europäische Bewusstsein, die europäische Einheit zerstören. Nur in der europäischen Einheit können wir in der Konkurrenz mit den starken Mächten wie China oder den Vereinigten Staaten bestehen. Die Europäische Union hat ihre Probleme, das muss man zugeben. Um stark bleiben zu können, müssen wir uns aber über die wirtschaftliche und administrative Vereinigung hinaus auch geistlich entwickeln und Europa kultivieren.
Was können Christ/innen zur Kultivierung Europas beitragen?
Halík: Christ/innen haben eine große Aufgabe und sie wird immer größer. Aber ich möchte zuerst einmal darauf hinweisen, wie es nicht geht. Manche Bemühungen von Christen haben mit Nostalgie zu tun und die Rede vom christlichen Europa ist mit vom Mittelalter beeinflusst. Man muss klar sagen: Es gibt keine Rückkehr zu einem vormodernen christlichen Europa. Was es aber gibt, sind die sehr gefährlichen Versuche von verschiedenen Populisten – wie besonders in Polen und Ungarn, aber auch in der Slowakei – mit christlicher Rhetorik eine christliche Ideologie zu schaffen und diese in den Dienst des Nationalismus zu stellen. Das geht nicht. Papst Franziskus hat klar gesagt: ein Christ kann nie ein Nationalist sein. Nationalismus ist kollektiver Egoismus. Ja, wir sollen und dürfen in Verantwortlichkeit für unser Erbe einen Patriotismus kultivieren, aber das muss immer in Solidarität mit anderen Nationen geschehen und auch mit den Menschen, die sich in schwierigen Situationen befinden wie zum Beispiel die Flüchtlinge.
Wie lässt sich das europäische Erbe, das Christen stärken und hochhalten sollen, beschreiben?
Halík: Ich meine, wir haben die guten Impulse der letzten Päpste, besonders von Papst Benedikt XVI. Er hat, als er noch Kardinal war, im Gespräch mit dem Philosophen Jürgen Habermas betont, dass sich liberaler Humanismus und Christentum nicht gegenseitig ausschließen, sondern einander brauchen. Der Liberalismus, der sich gegen das Christentum kehrt, ist einseitig. Aber auch ein Christentum, das sich vom Erbe der Aufklärung distanziert, wird zur gefährlichen Ideologie und zu einer Nostalgie. Wir brauchen in Europa, was Papst Benedikt eine gesunde Laizität genannt hat.
Vielen in der katholischen Kirche fällt dieser Zugang nicht leicht.
Halík: Die Lage der Kirche in Europa ist sehr schwierig. Nach dieser Welle von Skandalen des sexuellen Missbrauchs ist das Vertrauen der Leute in die Kirche schwach. Das muss uns sehr demütig und selbstkritisch machen, doch diese schwierige Situation ist ein Anstoß zum Nachdenken, für eine Umkehr und eine Verwandlung zu einem neuen Geist der Brüderlichkeit in der Kirche und zum Geist des Evangeliums.
Was sind aus Ihrer Sicht die Eckpunkte des Evangeliums, die auch im Blick auf Europa wichtig sind?
Halík: Das sind Solidarität, Barmherzigkeit und solidarische Liebe. Wir stehen vor der Frage: Wer ist mein Nächster? Das hat ein Pharisäer Jesus gefragt, um sich zu verteidigen, dass nicht jeder Mensch sein Nächster sein kann. Jesus hat das umgekehrt und gesagt: Du musst ein Nächster werden, besonders denen, die deine Hilfe brauchen. Du musst die Kunst lernen, Nächster zu sein. Der Philosoph Martin Heidegger hat einmal gesagt: „Die Technik hat alle Distanzen überbrückt, hat aber keine Nähe geschaffen.“ Wir Christen sollten eine Kultur der Nähe entwickeln.
Was soll Christ/innen auszeichnen?
Halík: Wir sind in der österlichen Zeit, in der wir auf den Auferstandenen schauen. Auferstehung ist nicht eine Rückkehr zu dem, was war. Christus ist durch die Erfahrung des Todes verwandelt. Die Leute kennen ihn nicht, nicht einmal seine Jünger. Der Auferstandene kommt wie ein Fremder. Das ist eine Botschaft für heute. Christus kann zu uns kommen, auch in der Gestalt von Fremden. Wir Christ/innen sind nicht im Besitz von Sicherheiten und unseres christlichen Erbes. Die Christ/innen der Zukunft werden Suchende sein – nach Christus, der zu uns kommt, als eine Überraschung. «
„Viele flammende Ansprachen über das Bedürfnis, die christlichen Werte in Europa zu schützen“ – besonders im Zusammenhang mit der Verbreitung der Angst vor Migranten und Muslimen – sind nur leere Worte, Blasen, welche die Machtansprüche der Populisten verhüllen sollen, ihre Bemühungen, die parlamentarische Demokratie durch autokratische Systeme zu ersetzen. An vielen Orten Europas werden wir wieder zu Zeugen der Verwechslung Gottes mit der Nation, (...) .
Populistische Politiker bemühen sich, die Repräsentanten der Kirchen dadurch auf ihre Seite zu ziehen, dass sie den Kirchen diverse Privilegien anbieten oder versprechen. Wenn es jedoch zu einer ‚eingetragenen Partnerschaft‘ zwischen der Kirche und den populistischen Machthabern kommen sollte, wird das zu einem fatalen Verlust der Glaubwürdigkeit der Kirche führen. (...) Dieses geschieht heute zum Beispiel schon in Polen, in Ungarn oder in der Slowakei. Das Ergebnis kann eine überraschend schnelle Säkularisierung auch von traditionell katholischen Ländern sein.“
Aus der Festrede von Prof. Tomáš Halík bei der Europawallfahrt in Mariazell
Prof. Tomáš Halík war Teilnehmer der Europawallfahrt, zu der rund 600 Gläubige aus Österreich, Deutschland, Tschechien und Slowenien am 3. und 4. Mai 2019 nach Mariazell gekommen waren. Die von der sudetendeutschen Ackermann-Gemeinde sowie der Christlichen Akademie Prag ausgerichtete Gebetsveranstaltung war bewusst im Vorfeld der neunten Wahl zum Europäischen Parlament (23. bis 26. Mai 2019) anberaumt. Seit ihrer Entstehung 1946 aus einem Kreis sudetendeutscher Katholiken setzt sich die Ackermann-Gemeinde für eine gute deutsch-tschechische Nachbarschaft in der Mitte Europas, für Friedens- und Völkerversöhnung mit den Völkern Ostmitteleuropas sowie für die Vertriebenen- und Aussiedlerseelsorge ein.
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