Über den gesamten Globus breitet sich das Coronavirus aus. Zum Schutz der Menschen werden Maßnahmen gesetzt, um die Verbreitung einzudämmen. Für die Flüchtlinge, die auf den griechischen Inseln in überfüllten Lagern festsitzen, wird die Situation unter den aktuellen Umständen noch schwieriger.
Im Mai 2019 besuchten Sie das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. Wie waren Ihre Eindrücke?
Jean Ziegler: So ein Elend, so eine Verzweiflung wie in Moria habe ich noch nie erlebt, auch nicht während meiner achtjährigen Zeit als UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, in der ich wirklich viel fürchterliches Leid gesehen habe. Ursprünglich wurde dieses Areal, eine ehemalige Kaserne, für 3000 Soldaten errichtet; jetzt leben dort 24.000 Menschen zusammengepfercht und warten verzweifelt darauf, ob ihr Asylbescheid abgelehnt oder angenommen wird – viele schon seit drei oder vier Jahren. Die hygienischen Bedingungen im Lager sind katastrophal. Es gibt viel zu wenig Duschen und Toiletten; so müssen sich 100 Personen ein WC teilen – das sind Metallkabinen, die man von innen nicht abschließen kann. Die meisten davon sind ständig verstopft und verbreiten einen fürchterlichen Gestank über das ganze mit Stacheldraht umgebene Lager.
Was war für Sie das Erdrückendste, das Sie dort erlebt haben?
Ziegler: Die Tausenden von unbegleiteten schutzlosen Kindern – letzte Überlebende von Bombardements oder von Schiffbrüchen, bei denen sie ihre Eltern und Geschwister verloren haben. Die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ betreibt ein Lazarett außerhalb des Lagers. Mediziner/innen und Psychiater/innen kämpfen dort gegen die Selbstmordversuche und Selbstverstümmelungen der Kinder. Die jungen Menschen nehmen ein Messer und stechen sich in die Arme und Beine – als letzter verzweifelter Hilfeschrei. Das hat mich schwer erschüttert. Es gibt keine Hoffnung. Die Nahrung für diese Menschen ist ungenügend und häufig ungenießbar. Abfallberge türmen sich auf. Ratten vermehren sich und immer wieder werden kleine Kinder von ihnen gebissen.
Warum gibt es in Europa solche Zustände?
Ziegler: Das Problem ist, dass die EU die Flüchtlinge als Gefahr für Europa sieht. Die fatalen Bedingungen in diesen Lagern auf -nsgesamt fünf griechischen Inseln sind gewollt, damit Flüchtlinge aus Syrien, aus dem Jemen, aus dem Irak oder aus Afghanistan nicht mehr kommen und darauf verzichten, die Flucht zu ergreifen, wenn sie solche Nachrichten aus Lesbos, Samos, Kos, Leros und Chios hören. Aber solche Strategien sind politisch unwirksam, denn wenn Menschen bombardiert werden wie jetzt im syrischen Idlib, dann gehen sie weg – wie auch immer die Nachrichten aus den Lagern sind. Solange diese Mentalität in Brüssel regiert, dass Flüchtlinge keine gepeinigten Menschen sind, die das Recht auf Schutz haben, sondern dass sie Feinde Europas sind, die man fernhalten muss um jeden Preis, solange ist die EU total unglaubwürdig. Sie liquidiert damit das Asylrecht und zerstört das moralische Fundament, auf dem sie selbst aufgebaut ist.
Menschenrechte werden mit Füßen getreten ...
Ziegler: Genau – das Recht auf Nahrung, das Recht auf Behausung, das Recht auf medizinische Versorgung. Es gibt in Moria nur einen einzigen Militärarzt für die 24.000 Menschen. Und wenn dort jetzt noch das Coronavirus ausbricht, was so gut wie sicher ist, dann gibt es eine menschliche Katastrophe.
Was müsste jetzt Ihrer Meinung nach passieren?
Ziegler: Diese Aufnahmegefängnisse müssen sofort geschlossen und alle Flüchtlinge auf die 27 Mitgliedstaaten der EU verteilt werden. Es gibt ja einen von der EU ausgehandelten so genannten Relokalisierungsplan, welcher die Kontingente für jedes Land festlegt. Das Problem ist, dass acht osteuropäische Staaten, darunter Polen und Ungarn, jede Aufnahme von Flüchtlingen ablehnen. Der polnische Ministerpräsident sagt, das Land müsse seine „ethnische Reinheit“ bewahren. Das ist Nazivokabular. Für Länder, die sich weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, braucht es Sanktionen. Das sind vor allem Bettelstaaten, die zu 80 Prozent von den Subventionen aus Brüssel leben. Vergangenes Jahr sind diese Länder in den Genuss des so genannten Kohäsionsfonds gekommen, der insgesamt 63,4 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt hat. Diese Subventionen müssen sofort suspendiert werden, bis diese Länder dem Verteilungsplan zustimmen.
Haben Sie Hoffnung, dass sich nun im Zuge dieser Situation im Hinblick auf das Coronavirus etwas bewegt und es zu einem Umdenken hinsichtlich der Flüchtlinge kommen könnte?
Ziegler: Nein. Leider passiert jetzt das Gegenteil, nämlich die Schließung aller Grenzen, der Rückfall in den Kollektivegoismus. Nach meiner Mission auf Lesbos – ich war dort 2019 in meiner Funktion als Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des Menschenrechtsrates der UN – bin ich so bestürzt gewesen über die katastrophale Situation in Moria, dass ich nicht mehr schlafen konnte. Und so habe ich ein Buch geschrieben – als Weckruf, als Waffe im Kampf gegen diese unmenschliche EU-Bürokratie. Moria ist das größte Flüchtlingslager auf europäischem Boden. All dieses Leid dort geschieht im Namen einer europäischen Abschreckungspolitik.
Und verantwortlich dafür ist die Europäische Kommission ...
Ziegler: Ja. Und das Absurde dabei ist, dass sie es in unserem Namen tut. Der Stacheldraht, die Kriegsschiffe von FRONTEX, die griechische Spezialpolizei mit Panzern – all das wird finanziert von unseren Steuergeldern. Das dient einer Politik, die von einer großen Mehrheit der Europäer aber abgelehnt wird.
Was könnten die Menschen tun?
Ziegler: Die starken demokratischen EU-Mitgliedstaaten wie Österreich, Deutschland, Frankreich müssten aufstehen. Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie. Wir haben alle Bürgerrechte, Menschenrechte, die es erlauben würden, diesen Aufstand durchzusetzen und unsere Regierungen zu zwingen, die Flüchtlingspolitik radikal zu ändern und im Flüchtling nicht mehr eine Gefahr zu sehen, sondern einen Menschen, der Schutz sucht und der völkerrechtlich auch das Recht auf Schutz hat. Es gibt für verfolgte, gefolterte Flüchtlinge keine illegalen Grenzübertritte. Sie haben das Recht, eine Grenze zu überschreiten und in einem anderen Staat ein Asylgesuch zu deponieren. Ob der Staat das dann ablehnt oder annimmt, ist wieder eine andere Problematik. Aber zu verhindern, dass jemand ein Schutzgesuch einreichen kann, wie das die europäische Grenz- und Küstenwache FRONTEX und die griechische Polizei jetzt tun, wenn sie mit Eisenstangen auf Flüchtlingsboote einschlagen oder sie auf Flüchtlinge schießen, das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das Asylrecht muss respektiert werden. Deshalb braucht es diesen Aufstand des Gewissens. Die Kirchen haben da auch eine große, wichtige Aufgabe, um den moralischen Anspruch wieder herzustellen, denn sie sind die Hüter der öffentlichen Moral.
Was erwarten Sie sich konkret von der Kirche?
Ziegler: Ich schätze Papst Franziskus sehr. Er war 2016 auf Lesbos; und 2017 sagte er bei einer Gedenkfeier, was er auf der Insel gesehen hat, erinnert an Zustände in Konzentrationslagern. Diese klaren Worte sollten in den Kirchen und darüber hinaus jeden Tag wiederholt werden. Es geht darum, ein Alarmsignal zu setzen und zu sagen, die Flüchtlinge sind Menschen wie du und ich, sie sind unsere Brüder und Schwestern. Was uns von ihnen trennt ist nur der Zufall des Geburtsortes. Alle Menschen sind Kinder des einzigen Gottes.
Buchtipp: Jean Ziegler: Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten. C. Bertelsmann Verlag, 2020, 143 Seiten, € 15,50.
Jean Ziegler ist Soziologe und Autor zahlreicher Bücher. Der Schweizer war von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und von 2009 bis 2019 Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrates. In dieser Funktion ist er immer noch als Berater tätig.