Ob Christen, Jesiden oder schiitische Muslime – im Irak geht die sunnitische Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) mit brutaler Gewalt gegen Minderheiten vor. Laut UN-Angaben sind 200.000 Menschen auf der Flucht vor den IS-Milizen. „Die Lage ist prekär“, sagt Nahostexperte Otmar Oehring.
Ausgabe: 2014/34, IS, Islamischer Staat, Oehring, Terror, Jesidisch, Islam
19.08.2014 - Susanne Huber
Die IS will mit Gewalt einen grenzüberschreitenden islamischen Gottesstaat errichten und rückt im Irak immer weiter vor. Dabei werden religiöse Minderheiten von den IS-Kämpfern massiv verfolgt. Wie schätzen Sie die Situation im Irak derzeit ein? Otmar Oehring: Die Lage kann man nicht anders als prekär beschreiben. Alle, die nicht dem sunnitischen Islam angehören, wie ihn die Terrorgruppe IS propagiert, werden von ihr als Feinde des Islam behandelt und die IS-Kämpfer gehen mit brutaler Gewalt gegen sie vor. Ganz oben auf ihrer Liste stehen die Schiiten. Danach kommen die Jesiden, eine religiöse Minderheit innerhalb der Kurden. Sie gehören keiner Buchreligion an, werden deswegen vom „Islamischen Staat“ als Gottlose beschrieben und gelten als todeswürdig. Man hätte davon ausgehen können, dass die Christen anders behandelt werden.
Wie meinen Sie das? Otmar Oehring: Es hat aus der Zeit der ersten Eroberungen seitens der ISIS – so hieß die Terrorgruppe IS ursprünglich – in der nordsyrischen Stadt Rakka z. B. Berichte gegeben, dass die Christen zwar der Scharia unterworfen worden sind und Kopfsteuer bezahlen mussten, aber man hat sie dafür überleben lassen. Trotzdem war es natürlich ein Schreckensregime und die Christen haben das Weite gesucht – es dürften auch kaum noch Christen in der Region Nordsyrien leben. Jetzt im Zusammenhang mit dem Vordringen der IS-Miliz im Irak wird berichtet, dass sie sich an diese Vorgaben der Scharia nicht mehr hält, sondern die Christen genauso wie alle anderen Gruppen, die nicht dem sunnitischen Islam angehören, als Ungläubige behandelt werden und ebenfalls mit dem Tod bedroht sind. Es wird den Christen angeboten zu konvertieren; wenn sie das nicht tun, würden sie umgebracht; andernfalls haben sie nur noch die Möglichkeit, das Gebiet zu verlassen. Und das haben sie im Fall Mossul schon im Juni getan und tun das jetzt auch in anderen von Christen besiedelten Ortschaften entlang der Grenzlinie zwischen der Autonomen Region Kurdistan und dem Rest-Irak.
Wie sehr denken Sie, ist die Existenz des Christentums im Irak gefährdet? Otmar Oehring: Ich denke, dass sie essentiell gefährdet ist. Viele Bischöfe sagen, man muss alles daransetzen, die christliche Präsenz im Irak zu erhalten. Das ist meiner Meinung nach vor dem Hintergrund dessen, was momentan im Irak passiert, nicht sehr überzeugend. Die Leute fliehen in großer Zahl. Es ist auch eine Frage der Menschenwürde der betroffenen Christen, ob diesen zugestanden wird, selbst über ihre Zukunft zu entscheiden. Ich denke, dass die Lage wirklich sehr ernst ist.
Die Autonome Region Kurdistan war immer ein Rückzugsort für Christen ... Otmar Oehring: Ja, und sie ist von den Bischöfen vor Ort in den vergangenen Jahren immer noch als Rückzugsort beschrieben worden, gleichwohl es schon damals wenig nachvollziehbare Ansätze gegeben hat, wie die Christen dort überleben sollen. Das große Problem ist, dass es für diese Gruppe keine Arbeitsmöglichkeiten gibt, denn es sind großteils Menschen, die nicht aus dem landwirtschaftlichen Bereich kommen. Es fehlt dort an wirtschaftlicher und sozialer Sicherheit. Deswegen ist damit zu rechnen, dass noch viel mehr Christen das Land verlassen werden. Und das wird im Zusammenhang mit den Kämpfen um die christliche Stadt Karakosch weitergehen, wenn sich das Rad nicht wendet und die IS-Kämpfer zurückgedrängt werden.
Gruppen von kurdischen Kämpfern aus dem Irak, aus Syrien, aus der Türkei haben nun gemeinsam den Kampf aufgenommen gegen den „Islamischen Staat“. Das ist ungewöhnlich ... Otmar Oehring: Das ist tatsächlich ungewöhnlich, da es eine Konkurrenz zwischen den kurdischen Peschmerga als Teil der irakischen Streitkräfte in Irakisch-Kurdistan und den bewaffneten Verbänden aus dem Umfeld der türkischen PKK und der PYD, der syrischen Variante der PKK, gibt. Aber jetzt haben sie alle ein gemeinsames Ziel – die IS vernichtend zu schlagen, wie sie selber sagen. Aber sie kämpfen nicht im eigentlichen Sinn gemeinsam, sie haben sich das Feld aufgeteilt. All diese Gruppierungen, es sind auch iranischen PKK-Ableger dazugestoßen, wurden von der kurdischen Regierung mehr oder weniger eingeladen, sich offiziell an dieser Auseinandersetzung zu beteiligen.
Der Westen weitet mittlerweile seine militärische Unterstützung gegen die IS-Milizen im Nordirak aus. Was sagen Sie dazu? Otmar Oehring: Ob Waffenlieferungen aus westlichen Staaten an den Irak bzw. die kurdischen Peschmerga angezeigt sind, müssen Militärexperten auf der Grundlage u. a. nachrichtendienstlicher Informationen entscheiden. Unabhängig davon ist sicher richtig, dass die Peschmerga in die Lage versetzt ,werden müssen, die kurdische Bevölkerung, aber auch die in Kurdistan und dem direkten Umfeld lebenden christlichen, jesidischen, turkmenischen, schiitischen – Schabak – und anderen religiösen Minderheiten zu schützen.
Was braucht es, um diese Gewalt zu stoppen? Was muss die internationale Gemeinschaft tun? Otmar Oehring: Zunächst einmal ist es wichtig, dass im Irak endlich eine stabile Regierung gebildet wird. Wichtig ist auch, dass sich die internationale Staatengemeinschaft, insbesondere jene Staaten, die am Irak ein großes Interesse haben, in irgendeiner Weise einigen, wie man mit diesem konkreten Konflikt umgeht, der auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen wird. Das sind auf der einen Seite weiterhin die USA; und das ist auf der anderen Seite der Iran.
Welche Interessen gibt es da? Erdöl? Otmar Oehring: Ich denke, dass das Interesse an Öl eher eine periphere Geschichte ist. Es geht hier vor allem um Einflusssphären, um Macht in der Region. Der Irak-Konflikt ist ja eingebettet in einen großen Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten. Schiitische Staaten wie der Iran, der Libanon mit der Hisbollah, Syrien mit dem alawitischen Assad-Regime bis hin zum Irak bemühen sich, ihren Einfluss in der Region auszubauen. Auf der anderen Seite stehen die sunnitischen Golf-Staaten und die Türkei, die das verhindern wollen.
Zur Sache
IS-Kämpfer auch aus Europa
Wer immer sich die Ereignisse in Syrien in den letzten Jahren ansah, „sollte nicht überrascht sein, was hier in der Region im Gange ist“, sagt Karin Kneissl. „Die Terrorgruppe ,Islamischer Staat‘ (IS), eine Abspaltung der Al-Qaida, hat sich immer konzentriert auf die Gründung eines Kalifats in dieser Region mit Schwerpunkt Damaskus, Bagdad, Jerusalem.“
Die Nahostexpertin weist auch darauf hin, dass die IS-Kämpfer fortlaufend rekrutieren. „Über ein Drittel der Kampfverbände kommt aus Europa, darunter sind Österreicher, Deutsche, Spanier, Franzosen. Es gibt heute genug junge Menschen, die Action wollen und zum Teil auch keinen islamischen Hintergrund haben. Es gibt viele Konvertiten, die hier tätig werden. Rekrutiert wird auch übers Internet.“ Die Türkei spielt laut Kneissl in diesem Zusammenhang eine zwielichtige Rolle. „Sie hat den Dschihadisten-Highway überhaupt erst ermöglicht.“ Die Rekrutierten oder andere Kämpfer reisen mit Billigfluglinien in die Südtürkei, werden dort abgeholt, bekommen ihre Gelder, ihre Ausweise und fliegen dann weiter über Syrien in den Irak, so Kneissl. „Die Türkei, Europa, die USA sind in erster Linie dafür verantwortlich, was jetzt im Irak, in Syrien unter Wegschauen der westlichen Öffentlichkeit an Massakern und an Zerstörungen von Kulturgut passiert.“
Buchtipp: Mein Naher Osten, Karin Kneissl, Wien, Braumüller Verlag 2014. Euro 21,90.
Papst hält militärisches Eingreifen für „legitim“
Papst Franziskus hält ein militärisches Eingreifen im Irak unter bestimmten Umständen für gerechtfertigt. Einen „ungerechten Aggressor“ aufzuhalten, sei „legitim“, sagte er am Montag vor mitreisenden Journalisten auf dem Flug von Seoul nach Rom. „Ich benutze bewusst das Wort ,stoppen‘, ich spreche nicht von ,bombardieren‘“, betonte der Papst. Im Irak gehe es nicht nur um bedrängte Christen. „Es ist wahr, sie leiden“, sagte der Papst. „Aber hier geht es um Männer und Frauen, um religiöse Minderheiten. Nicht alle sind Christen. Aber alle sind gleich vor Gott.“ Auf die Frage, ob er in den Irak reisen würde, sagte er: „Ja, ich bin bereit.“