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Der Mensch allein im Kampf mit den Elementen verdichtet sich im Schiffbruch auf offener See zu einem beliebten Motiv in der Literatur- und Filmgeschichte. Angesichts der Ereignisse im Mittelmeer in den letzten Jahren, die bisher vorrangig in Dokumentarfilmen filmisch verarbeitet wurden, war es nur eine Frage der Zeit, bis sich auch ein Spielfilm mit den Vorkommnissen zwischen Afrika und Europa beschäftigen sollte.
„Styx“, der neue Film des aus Amstetten stammenden Filmemachers Wolfgang Fischer, ist zwar auch von einem dokumentarischen Gestus geprägt, wird aber vor allem durch Namensbezeichnungen und durch die räumliche Situierung mythologisch überhöht. Schon der Titel des Films deutet in diese Richtung. Am Beginn stehen rätselhafte Ansichten von Berberaffen, die sich in städtischem Ambiente vergnügen. Es sind unkommentierte, neutral gehaltene Momentaufnahmen, die den Zusammenprall von Natur und Zivilisation verdeutlichen. Dann ein abrupter Schnitt in eine Panoramasicht auf eine Kreuzung in einer Stadt. Entfesselte Autos kreuzen da die Wege, bis es kracht. Die Einsatzfahrzeuge sind schnell am Unfallort. Eine Notärztin leitet mit ihrem Team die Bergung eines Verletzten. Dann wieder ein Schnitt auf die beiden Felsenberge von Gibraltar. Die Herkulessäulen, die in der antiken Vorstellung das Ende der bekannten Welt bedeuteten, jenseits war Atlantis. Die Ärztin bepackt eine mittelgroße Segelyacht und bringt sie in Gang. Eine Karte gibt „Ascension Island“ als Ziel an, das Atlantis der sportlichen, deutschen Notärztin „Rike“ (Susanne Wolff). Das Boot trägt den Namen „Asa Gray“, jenes Botanikers, der mit Darwin befreundet war, dessen Evolutionstheorie vom Überleben des Stärkeren aber ablehnte. Darwin war 1836 in „Ascension Island“ gelandet und hatte dort seinen persönlichen Garten Eden entstehen lassen. – Der mythologische Ballast ist groß, mit dem Wolfgang Fischer das Publikum mit der Ärztin auf Reise schickt. Nach einer stürmischen Nacht entdeckt die Frau ein defektes, überladenes Fischerboot. Nachdem die Menschen dort das Segelboot gesehen haben, springen einige ins Wasser und drohen zu ertrinken. Von da an verliert die bisher so souverän wirkende Protagonistin zusehends die Kontrolle.
Einerseits will sie, ärztlicher Ethik Folge leistend, rettend eingreifen, gleichzeitig weiß sie, dass ihr Boot zu klein ist, um alle Menschen aufzunehmen. Die von ihr informierte Küstenwache fordert sie mehrfach auf, nichts zu unternehmen, der Kapitän eines vorüberfahrenden Dampfers bleibt aus Angst vor Jobverlust ebenfalls inaktiv. So wird Rike fast gezwungen, ihre Beobachterposition aufzugeben und sie rettet einen Jungen, der nicht schwimmen kann, begibt sich dann aber wieder auf sichere Distanz zum Fischerboot. Mit dem Jungen, der krank und erschöpft ist, eskaliert die Situation. Irgendwann wird er sie aus dem Boot stoßen, und nur mit größter Mühe gelangt sie wieder an Bord: „Du schmeißt mich nicht von meinem Boot!“ ist der einzige deutsche Satz, den sie auf dem Segelboot ausspricht. – Ein vieldeutiger Satz, der die europäische Politik nach dem Migrationschaos vom Sommer 2015 und die Reaktionen auf die Willkommenssprüche der deutschen Bundeskanzlerin bestens auf den Punkt bringt. Da wird dann von sogenannten Pull-Faktoren gesprochen, unlängst sogar Nächstenliebe als Hochverrat bezeichnet. „Styx“ wirkt wie eine Versuchsanordnung zu „Schiffbruch mit Zuschauer“, dem Buch von Hans Blumenberg, und übersetzt es in eine konkrete Situation: Wie handle ich, wenn ich nicht mehr aus der gesicherten Distanz mit dem Elend konfrontiert werde, sondern direkt vor Ort? Und vor allem, wie fühlt es sich an, selbst vom rettenden Boot gestoßen zu werden?
Ab 23. November 2018 im Kino
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