Zwölf ist ein neugieriger, aber schusseliger Elf. Seine beste Freundin ist Melisandra, die Meerjungfrau. Mit ihr erlebt er spannende Abenteuer in der Tiefe des Meeres. Aber auch im Elfenwald ist allerhand los! --- Fünf Geschichten von der oberösterreichischen Märchenerzählerin Claudia Edermayer. Die Bilder stammen von der jungen Illustratorin Mia Maschek.
Ausgabe: 2017/37
03.09.2017 - Claudia Edermayer
Das Elfenkätzchen
„Juhuu, ich bekomme eine Elfenkatze!“, ruft Zwölf, der Elf.
„Eine Elfenkatze?“, fragt Melisandra. Sie ist eine Meerjungfrau und seine beste Freundin.
Zwölf nickt. „Ich habe sie gestern im Wald getroffen. Mikauz kommt in zwei Wochen zu uns in den Baumpalast. Sie ist wunderschön. Ihre Flügel sind fast durchsichtig und schimmern in den Farben des Regenbogens. Und stell dir vor: Ihre Augen leuchten! Wenn sie zornig ist, strahlen sie rot. Wenn alles in Ordnung ist, haben sie die Farbe von reifen Orangen. Hoffentlich gefällt es Mikauz bei uns! Ich muss jetzt zurück und alles für ihre Ankunft vorbereiten. Bis bald!“ Zwölf saust davon.
In den nächsten Tagen hat er kaum Zeit für Besuche am Meer. Er hilft der Elfenkönigin Elvira alles für Mikauz herzurichten. Sie suchen einen Ast für das Nest der Elfenkatze, bauen ein Katzenklo und rösten Käfer. Die mögen Elfenkatzen besonders gerne!
Dann endlich ist es so weit. Mit klopfendem Herzen überprüft Zwölf zum dritten Mal, ob die gerösteten Käfer bereitliegen, sieht nach, ob der Schlafplatz sauber und das Katzenklo mit Sand gefüllt ist.
Dann lässt er sich auf dem Aussichtsplatz nieder und wartet.
Und wartet …
Und wartet.
Die Sonne geht unter, doch von Mikauz ist nichts zu sehen. Zwölf seufzt. Hat er sich im Tag geirrt? Gerade als er in den Elfenkinderbaum zurückkehren will, raschelt es plötzlich. Er dreht sich um und wäre vor Schreck beinahe vom Ast gestürzt. Direkt hinter ihm sitzt Mikauz und beobachtet ihn mit orange leuchtenden Augen. „Bin da!“, maunzt sie und leckt ihm über die Hand.
„Endlich“, sagt Zwölf und krault sie am Kopf. Die kleine Elfenkatze schließt die Augen und schnurrt.
Nach einer Weile sagt Zwölf: „Komm, ich zeig dir dein neues Zuhause. Du hast sicher Hunger. Ich hab Käfer für dich geröstet.“ Mikauz leckt sich die Schnauze. Zwölf lacht. „Komm mit. Drinnen wartet auch schon Elfenkönigin Elvira auf dich.“
Seite an Seite fliegen die beiden in den Palast.
Mikauz und Melisandra
Mikauz liegt auf ihrem Lieblingsast und döst. Als Zwölf sich zu ihr setzt, dreht sie ihm beleidigt den Rücken zu.
„Was ist los?“, fragt er. Die Elfenkatze tut so, als hätte sie ihn nicht gehört.
„Bist du böse auf mich?“
„Mel-andra“, knurrt Mikauz.
„Du beschwerst dich, weil ich bei Melisandra war?“, fragt Zwölf. „Aber sie ist meine Freundin!“
„Ich“, maunzt Mikauz.
„Ja, dich hab ich auch lieb“, sagt Zwölf und streichelt die Elfenkatze. Sie schnurrt und schmiegt sich an ihn.
„Komm, wir fliegen zusammen zum Meer, zu Melisandra“, sagt der Elf.
„Meer? Mag nicht“, knurrt Mikauz.
„Es gefällt dir bestimmt. Los!“
Mikauz rührt sich nicht von der Stelle.
„Hast du etwa Angst vor dem Meer?“, fragt Zwölf. Mikauz schüttelt den Kopf und stößt sich ab. „Fliegen“, sagt sie bestimmt und folgt ihm.
„Melisandra, ich habe Besuch mitgebracht!“, ruft Zwölf, als sie an den Strand kommen.
Die Meerjungfrau taucht aus den Fluten auf und schwingt sich auf einen Felsen. Mikauz flattert näher, schnuppert an ihrer Hand und verzieht das Gesicht. „Bäh, Fisch!“
Melisandra wirft ihr einen bösen Blick zu.
„Benimm dich, Mikauz“, sagt Zwölf streng.
„Spielen“, maunzt die Elfenkatze und flattert zum Strand, ohne sich weiter um die beiden zu kümmern. Plötzlich rollt eine große Welle heran. „Vorsicht!“, schreien Zwölf und Melisandra. Doch schon hat das Wasser Mikauz verschluckt. Die Meerjungfrau springt hinterher und taucht mit der Elfenkatze im Arm wieder auf. Mikauz spuckt und niest. „Nass!“, krächzt sie und schmiegt sich zitternd an Melisandra.
„Alles in Ordnung mit dir?“, fragt Zwölf besorgt.
„Kein Meer mehr“, maunzt die kleine Elfenkatze.
„Möchtest du spielen, Mikauz?“, fragt Melisandra. Zuerst zögert Mikauz. Doch bald tobt sie mit Melisandra und Zwölf auf dem Felsen herum.
Schließlich schmiegt sich die Elfenkatze erschöpft an Melisandra. „Freundin“, maunzt sie und leckt über die Hand der Meerjungfrau. Dann schließt sie die Augen und schläft ein.
Im Meer
„Ich habe dir eine Zaubermuschel mitgebracht. Damit kannst du unter Wasser atmen“, sagt Melisandra, als Zwölf und Mikauz sie am nächsten Tag besuchen.
„Mag nicht“, maunzt Mikauz.
„Versuch es, ich bin bei dir“, sagt Zwölf. Mikauz zögert. Schließlich nickt sie. Die Meerjungfrau lächelt, reißt sich ein Haar aus und befestigt die Zaubermuschel damit am Hals der Elfenkatze.
„Eng“, maunzt Mikauz und versucht sich zu befreien.
„Das muss so sein. Los, spring!“, ruft Zwölf. Mikauz schüttelt den Kopf. „Tragen.“
Zwölf nimmt sie auf den Arm und springt mit ihr ins Meer. Entsetzt hält die Elfenkatze die Luft an, ihre Augen leuchten rot.
„Atme“, sagt Melisandra. Mikauz faucht, maunzt und … atmet ein. Dank der Zaubermuschel ist das auch unter Wasser kein Problem. Die Elfenkatze paddelt übermütig im Meer, jagt einen Schwarm kleiner Fische und verschwindet dann in der Tiefe.
„Nicht so schnell!“, ruft Zwölf. Er flitzt hinterher und stößt beinahe mit Mikauz zusammen. Sie drückt sich in seine Arme und zeigt erschrocken auf eine stachelige Gestalt am Meeresboden. „Aua“, maunzt sie. Melisandra zupft einen Stachel aus ihrer Pfote. „Mit Seeigeln kannst du nicht spielen. Du musst vorsichtiger sein, Mikauz, bleib in unserer Nähe.“
Seite an Seite schwimmen sie über den Meeresboden. Bunte Fische lugen neugierig aus ihren Seegrasverstecken. Muscheln klappern mit den Schalen. Mikauz schwimmt näher an sie heran und faucht plötzlich. In einer Felsspalte lauert ein Fisch mit weit aufgerissenem Maul! Entsetzt starrt die Elfenkatze auf die spitzen Zähne.
„Schwimm langsam zu uns zurück“, flüstert Melisandra. „Wir sind hinter dir.“
Zwölf nimmt die zitternde Elfenkatze in seine Arme. „Ungeheuer“, flüstert Mikauz.
„Nein, kein Ungeheuer, eine Muräne. Sie wartet in ihrem Versteck auf ihre Beute. Uns beißt sie nur, wenn sie Angst hat“, sagt Melisandra.
„Heim“, maunzt Mikauz.
Zwölf streichelt sie sanft. „Gut, wir schwimmen zurück.“
Die Meeresschildkröten
„Der Sand bewegt sich!“, ruft Zwölf. Melisandra lächelt. Endlich ist es so weit – die Meeresschildkrötenbabys schlüpfen aus den Eiern, die ihre Mutter am Strand vergraben hat. Zwölf flattert aufgeregt mit den Flügeln und knipst das Licht an seinen Fingerspitzen an, denn es ist schon dunkel. Da! Die erste kleine Schildkröte steckt ihren schwarzen Kopf aus dem Sand. Mit den Vorderbeinen gräbt sie sich nach oben. Neben ihr taucht ein zweiter Kopf auf, dann ein dritter. Die kleinen Schildkröten krabbeln übereinander, purzeln zurück in das Loch und versuchen es erneut.
„Mach dein Licht aus. Das bringt sie durcheinander!“, ruft Melisandra.
Das Licht verlöscht. Jetzt erhellt nur noch der Mond den Strand. Immer mehr Tiere schlüpfen. Über hundert zählt Zwölf, dann hört er auf. Die kleinen Schildkröten heben die Köpfe, sie suchen nach dem Weg zum Meer. Ohne zu zögern, krabbeln sie auf das Mondlicht zu, das sich im Wasser spiegelt.
Der Elf flattert hinüber zu dem Felsen, auf dem Melisandra sitzt. „Sie kommen!“, ruft er.
„Sieh nach, ob eine von ihnen Hilfe braucht“, erwidert sie.
Zwölf saust zurück zum Strand. Inzwischen haben fast alle Tiere ihr Gelege verlassen. Nur eine kleine Schildkröte ist noch übrig. Als sie versucht, aus dem Loch zu krabbeln, purzelt sie zurück auf den Rücken. Verzweifelt streckt sie ihren Hals aus und rudert mit den Beinen, um sich umzudrehen. Zwölf will ihr gerade aufhelfen, als sie auf den Bauch plumpst. Die kleine Schildkröte verschnauft einen kurzen Augenblick, dann macht sie sich auf den Weg zum Meer.
Zwölf kehrt zu Melisandra zurück. „Alle Tierchen sind geschlüpft, keins ist zurückgeblieben. Schau, da kommt das letzte.“
Endlich haben alle Schildkröten das Wasser erreicht. Sie schwimmen los, folgen dem Licht des Mondes hinaus aufs Meer. Zwölf und Melisandra winken ihnen nach.
Sternschnuppenzeit
Lange hat Zwölf auf die Sternschnuppenzeit gewartet – jetzt ist sie da. Die Elfenkönigin Elvira streckt ihre Hände nach einer Sternschnuppe aus und singt: „Elfenmagie und Himmelsschein, hüllt nun den Sternenstaub ein!“ Eine zarte Hülle umgibt die Sternschnuppe. Elvira überreicht dem Elfenmädchen Cinis das Zauberlicht. „Pass gut darauf auf!“
Cinis drückt das Licht fest an sich und nickt. Eine weitere Sternschnuppe saust herab. Doch das Licht weicht aus und verschwindet im Wald. Elvira schüttelt verwundert den Kopf und wendet sich der nächsten zu.
In der Nähe kichert jemand. Zwölf folgt dem Geräusch bis zu einer Lichtung. Auf dem Boden sitzt die kleine Bellis und greift nach der Sternschnuppe, die hier im Wald gelandet ist.
Plötzlich bemerkt das Licht Zwölf und versteckt sich hinter Bellis.
„Du hast meine Sternschnuppe erschreckt. Jetzt ist sie weg!“, ruft sie und weint. Sie weint oft, seit sie in den Elfenpalast gezogen ist. Sie hat Heimweh.
Zwölf schüttelt den Kopf. „Sie ist noch da, hinter dir.“ Die Sternschnuppe blinkt zweimal. Zwölf sagt: „Keine Sorge, ich verrate euch nicht.“
„Wen verrätst du nicht, Zwölf?“, fragt auf einmal Elvira hinter ihm. „Und du Bellis, was hast du da in deinen Haaren? Ist das etwa die verschwundene Sternschnuppe? Komm sofort heraus, Sternenlicht!“ Die Sternschnuppe funkelt.
„Du willst bei Bellis bleiben?“, fragt die Elfenkönigin. Die Sternschnuppe schmiegt sich an die Wange des Mädchens. Elvira seufzt. Noch nie zuvor hat ein so kleines Elfenkind ein Zauberlicht bekommen! Aber wenn es Bellis glücklich macht und sie dann nicht mehr so viel weinen muss ... Elvira nickt. „Du kannst bei ihr bleiben. Aber ich muss dich verzaubern, dein Licht verblasst schon. Komm her.“
Zögernd schwebt die Sternschnuppe auf die Handfläche der Elfenkönigin. Elvira singt das Zauberlied. Dann überreicht sie Bellis das Elfenlicht. „So, jetzt aber rasch ins Bett, ihr zwei“, sagt sie und lächelt.