In den Psalmen blicken die Beterinnen und Beter auf die erfahrene Not zurück – und sie erzählen, wie ihr Unheil gewendet wurde.
Aus der Serie "Das Alte Testament – die Bibel Jesu", Teil 3 von 5, Das Buch der Psalmen
Ausgabe: 2015/4, Psalmen, Gillmayr-Bucher
20.01.2015
Die vielfältigen Gespräche mit Gott, wie sie uns in den biblischen Psalmen überliefert sind, spiegeln Menschsein in all seinen Dimensionen – sie sind der Ort, an dem das ganze konkrete Leben der Menschen vor Gott zur Sprache kommen darf. Im Psalmgebet finden Freude, Zuversicht, Dank und Bitte ebenso wie Angst, Verzweiflung, Resignation und bittere Anklage ihren Platz. Die 150 Gedichte und Gebete, die im Psalter überliefert sind, sind dabei nicht nur Zeugnisse der Frömmigkeit einer längst vergangenen Zeit, sondern sie blieben über die Jahrhunderte hinweg Gesprächsangebote. Menschen aller Zeiten konnten und können ihre eigene Situation in diesen Texten wiederfinden und in diesen zur Sprache bringen.
Spiegel menschlicher Erfahrungen
Die Psalmen bieten einen Spiegel menschlicher Erfahrungen und stellen zugleich ein Angebot dar, die je eigene Erfahrung in Worte zu fassen. Die großen Loblieder des Psalters lassen uns Anteil haben an der Freude über das Leben, die Schöpfung und die Erfahrung von Gott. Sie nehmen die Leser und Leserinnen mit hinein in die staunende Bewunderung und den freudigen Jubel angesichts der Schöpfung (z.B. Ps 8; 104) oder die Erfahrung von Gottes Zuwendung (z.B. Ps 23). In ihrer lobenden Beschreibung sind diese Psalmen Ausdruck einer Ordnung, die Beterinnen und Beter in dieser Welt erkennen. Für diejenigen, die in den Lobgesang einstimmen, bieten diese Texte damit auch eine Orientierung an. Die erfahrbare und in den Lobliedern bezeugte Harmonie stellt jedoch nur einen Ausschnitt unserer Lebenserfahrung dar. Leid, Ungerechtigkeit, Bedrohungen wie auch eigene Unzulänglichkeiten bilden ebenso einen festen Bestandteil menschlicher Erfahrung. All das wird in den Psalmgebeten zur Sprache gebracht. In heftigen Klagen und zum Teil bitteren Anklagen thematisieren die Beterinnen und Beter den Zusammenbruch ihrer Welt (z.B. Ps 10; 13). Sie schildern, wie alles, worauf sie sich verlassen haben, zusammenbricht und ihnen jeglicher Halt entzogen wird. Sie beklagen ihre Desorientierung und fordern Gott (an-)klagend und drängend zum Handeln auf. Die Erfahrung einer Wende vom Unheil zum Heil wird in den Dankliedern des Psalters besungen. In diesen Psalmen blicken die Beterinnen und Beter auf die erfahrene Not zurück und können bereits von der Überwindung der Unheilssituation berichten. Sie erzählen in lebendigen Bildern von ihren leidvollen Erfahrungen und auch von ihrer Wiederherstellung (z.B. Ps 30). Erneut dürfen sie erfahren, dass es eine verlässliche Ordnung gibt, und vor allem, dass auf Gott Verlass ist. In Lob und Dank bezeugen sie ihre Freude über die ihnen geschenkte Neuorientierung.
Eigene Erfahrungen einbringen
Die Psalmen sind ein lebendiger Ausdruck einer Gemeinschaft, die in diesen Texten ihre vielfältigen Erfahrungen mit Gott zur Sprache bringt und in Erinnerung behält. Die Weitergabe der eigenen Erfahrung mit Gott bildet eine wesentliche und unverzichtbare Funktion. Die öffentlich gesprochenen Dankgebete und Erzählungen von der erfahrenen göttlichen Hilfe sind nicht nur Lob oder Dank an Gott, sondern sie legen ebenso ein Zeugnis davon ab, dass Gottes Handeln im Leben eines Menschen spürbar geworden ist. Leserinnen und Leser der Psalmen sind eingeladen, in diese Tradition einzutreten und ihre eigenen Lebenserfahrungen in den Worten und Bildern der Psalmen in den breiten Strom der Erfahrungen einzubringen. Auf diese Weise tragen sie dazu bei, die Hoffnung und Zuversicht, dass sich das menschliche Leben vor Gott abspielt und dementsprechend in einer ständigen Kommunikation mit Gott steht, in Erinnerung zu behalten.