Wie gut, dass es Lieder gibt – und Menschen, die sie singen. Aber wieso ist Musik eigentlich so eng mit Religion verknüpft?
Aus der Serie zur Erntedank-Zeit, Teil 3 von 4.
Nichts bleibt übrig. Keinerlei Spur. Wenn ein Lied verklungen ist, die letzten Schwingungen verebbt sind im Raum, ist nichts mehr da von ihm. So ist das mit der Musik. Vielleicht werden irgendwelche Nachfolgewesen des Menschen einmal auf dem Erdenplaneten seltsame Gegenstände finden, – Reste von Instrumenten etwa – oder, aufgrund günstiger Umstände, vergilbte Seiten einer Partitur, die Scherbe einer Schallplatte vielleicht – ein Lied werden sie trotzdem nicht mehr zu hören bekommen. Die Existenz von Musik ist von eigener Art. Sie ist mit dem Menschen verknüpft – kommt mit ihm und geht mit ihm. Und: Sie ist nur wirklich, wenn sie gespielt wird. Zwar sind Menschen dazu übergegangen, Musik auf Tonträgern zu speichern, oder sie übertragen sie in ferne Räume. Aber dort wird dann nur gehört, nicht gespielt. Es ist nur halbe Musik.
Musik rechnet sich nicht
Dass Lieder klingen. Dass Menschen singen. Dafür darf man dankbar sein. Im Singen und Spielen wird deutlich: Es ist etwas Besonderes, Mensch zu sein. Musizieren entzieht sich den Kriterien für sinnvolles Tun. Es hat eigentlich keinen Nutzen – es sei denn, es singt jemand im Dunkeln, um seine Angst zu vertreiben. Eine Missionsschwester hat erzählt, sie hätte auf ihren weiten Fußmärschen immer gesungen, um die wilden Tiere zu verscheuchen. Im Singen zeigt sich der Mensch von seiner besondersten Seite. „Dir will ich singen und spielen – meine Seele, die du erlöst hast, soll jubeln.“ – So tritt der Mensch, wenn er sein Menschsein am tiefsten erlebt, vor Gott hin (Psalm 73, 23). Musik zahlt sich auch nicht aus, sie rechnet sich nicht – es sei denn, man treibt Geschäfte damit – aber das steht auf einem anderen Blatt. Musik bricht die Schale des Erklärbaren und auch Verstehbaren auf, hin zum Erspüren und Erahnen. Dass da noch etwas ist. Deshalb ist Singen und Spielen so stark mit Religionen verbunden.
Ein Lied geht über Worte hinaus
Wie gut, dass es die Lieder gibt, und Menschen, die sie singen – weil reden nicht ausreicht, wenn man traurig ist, und man nicht immer sagen kann, warum man so froh ist. Ein Lied auf den Lippen, ein Pfeifen – auch wenn es sich in der Öffentlichkeit angeblich nicht gehört – geht weit über Worte hinaus. Die Innenseite des Lebens zeigt sich in diesen Melodien, in Dissonanzen und in Harmonien. Leute, die sich um das Singen und Spielen kümmern, sind Frohbotschafter der besonderen Art. Glücklich darf sich eine Christengemeinde schätzen, die solche hat.
Also bleibt doch etwas von den Liedern. Es bleibt in den Herzen der Menschen, lebt mit ihnen, stirbt mit ihnen.
Meditation
Manchmal drängt sich eine Melodie von gestern herein in den Tag: Eine Tonfolge aus einer Bruckner-Motette, wie heute, oder ein ganz gewöhnliches Lied. Sein Rhythmus trägt durch den Tag, wie den Sportler die Welle trägt.
Das Lied flüstert ins Ohr: Es ist ist nicht alles gesagt, mit dem, was du hörst und besprichst, und mit der Arbeit, die du erledigst, ist längst nicht alles getan.
Es gibt eine Melodie, die kommt anderswoher. Sei achtsam und höre zu.
Matthäus Fellinger