Wohlstand ohne Wachstum: Ist das überhaupt möglich?
„Wir brauchen Wirtschaftswachstum, um den Wohlstand zu sichern.“ So leiten Politiker oft Statements ein. Kritische Vordenker erarbeiten dagegen Konzepte für Wohlstand jenseits des Wirtschaftswachstums. Ist „Wohlstand ohne Wachstum“ also eine unumgängliche Zukunftsvision oder eine unrealistische Utopie?
Die Zukunft hat schon begonnen: In Afrika werden Kriege um Rohstoffe geführt, Europa und die USA schotten sich gegen Einwanderer aus dem Süden ab, die ein besseres Leben suchen. Der Klimawandel ist spürbar. Und manche Beobachter in Europa sehen in unseren Kindern die erste Generation seit 1945, der es wirtschaftlich nicht besser gehen wird als ihren Eltern. Nicht erst die Finanz- und Wirtschaftskrise stellt die Menschheit vor enorme Herausforderungen. Eines der grundlegenden Probleme ist altbekannt: Die Ressourcen dieser Erde, Rohstoffe ebenso wie die Menge, mit der die Atmosphäre durch Emissionen belastbar ist, sind beschränkt. Selbst der technische Fortschritt hat es bislang nicht zuwege gebracht, den Raubbau zu stoppen: Wirtschaftswachstum, steigende Ressourcenknappheit und Umweltverschmutzung gehen weltweit Hand in Hand. Unser Wohlstand ist also auf Kredit gebaut, sogar wortwörtlich: Staatshaushalte leiden an Überschuldung und am Beginn der Finanzkrise standen in den USA riskante Immobilienkredite für Privathaushalte.
Anderes System
Manche Vordenker hoffen darauf, dass man Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch entkoppeln kann. Sie setzen auf qualitatives statt auf quantitatives Wirtschaftswachstum. Der britische Ökonom Tim Jackson sieht aber kaum Hinweise, dass dies ausreicht. Seine Alternative ist der Entwurf eines anderen Wirtschaftssystems, das bewusst auf Wirtschaftswachstum, das rein nach dem Bruttoinlandsprodukt gemessen wird, verzichten und dennoch ein gutes Leben garantieren soll: Zunächst müssen laut Jackson die ökologischen Grenzen menschlicher Tätigkeit festgelegt werden; die Wirtschaftswissenschaften müssten sich auf Alternativen zum bisherigen System einstellen. Vor allem, so Jackson, müsste der Güterkonsum des Einzelnen zurückgehen.
Unbequemer Weg
Wer glaubt, das ließe sich auf einem bequemen Weg erreichen, täuscht sich: Begrenzt oder stoppt man das Wirtschaftswachstum und den Konsum, heißt das auch, dass es weniger Arbeit gibt. Jackson schlägt vor, die Arbeit neu zu verteilen. Das bedeutet geringere Arbeitszeiten, mehr Freizeit, aber auch eine niedrigere Einkommensbasis. Das wiederum hat Folgen auf den Lebensstil des Einzelnen und der Gesellschaft. Der Volkswirtschaftsprofessor Hans Diefenbacher von der Universität Heidelberg beschreibt dies im Gespräch mit dieser Zeitung so: „Sagen wir es vorsichtig: Konsum entschädigt uns zum Teil nur für Dinge, die wir vermissen. Wenn Sie ein schlechtes Arbeitsleben haben, haben Sie wenigstens ein gutes Konsumleben. Wenn Sie ein gutes Arbeitsleben haben, brauchen Sie vielleicht keine Ersatzgüter, um dafür entschädigt zu werden.“ Viel zu arbeiten und viel zu konsumieren ist zudem ein Lebensstil, den immer mehr Menschen als krank machend und sinnentleert erleben – Stichwort Burn-Out. Das bedeutet: Ohne Verzicht geht es nicht. Der Sozialpsychologe Harald Welzer, Direktor der Stiftung „Futurzwei“, propagiert einen kulturellen Wandel, der auch als Rückbesinnung auf Tugenden wie Sparsamkeit, Verantwortung und Achtsamkeit daherkommt. Der Clou bei Konzepten für Wohlstand ohne Wachstum liegt eben darin, dass Wohlstand nicht rein über Einkommen definiert wird.
Reale Möglichkeit?
Ist Wohlstand ohne Wachstum also schöne Utopie oder eine reale Möglichkeit? „Wir müssen uns entscheiden: Sind wir der Meinung, dass wir ein ausreichendes Lebensniveau erreicht haben und jede weitere Steigerung fatale Folgekosten für die Ökologie hervorruft? Oder sind wir nach wie vor der Meinung, dass die Wirtschaft so weit wie möglich wachsen soll und alles andere einen weniger guten Zustand darstellt?“, sagt Hans Diefenbacher. Für Friedrich Schneider, Volkswirtschaftsprofessor der Uni Linz, ist der springende Punkt bei Postwachstums-Konzepten die Zustimmung: „Wenn eine Mehrheit der Bevölkerung in einer Demokratie bereit ist, auf Zuwachs zu verzichten, dann kann das funktionieren. Ich bezweifle aber stark, dass man da eine Mehrheit findet.“ Schneider nennt weitere Bedenken: Nullwachstum sei bestenfalls für entwickelte Staaten eine Option. Denn arme Staaten blieben ohne Wachstum in Armut. Zudem gelte auch bei uns: Wenn es für niemanden Zuwachs gebe, stelle sich die Frage der Verteilung zwischen Reich und Arm deutlicher. Postwachstums-Befürworter treten daher für ein bedingungsloses Grundeinkommen ein. Hans Diefenbacher sagt, er sei „eher auf der Seite der Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens“, wobei man auf die Ausgestaltung des Systems achten müsse. Für Friedrich Schneider ist das Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens „als Idee charmant“, es sei aber unklar, ob es finanzierbar sei. Wie können wir also angesichts ökologischer Grenzen weiter vorgehen? „Wir müssten definieren, welche ökologischen Ziele wir bis Mitte des Jahrhunderts erreichen müssen. Dann ist zu diskutieren, wie wir das schrittweise umsetzen – das muss heute passieren. Außerdem müssen wir auch Fehler und Korrekturen mitbedenken“, sagt Hans Diefenbacher. Friedrich Schneider betont vor allem die Aufklärung der Menschen über die Zusammenhänge. Als eine konkrete Möglichkeit nennt er, das Reparieren von Produkten wieder rentabel zu machen.
Welches Wachstum?
Kritisch mit dem Wirtschaftswachstum geht auch Papst Franziskus um, obwohl er nicht einfach für ein Postwachstums-Konzept vereinnehmbar ist: „Das Wachstum in Gerechtigkeit erfordert etwas, das mehr ist als Wirtschaftswachstum, auch wenn es dieses voraussetzt“, schreibt er in „Evangelii Gaudium“. Deutlich wird, dass der Papst einen dem Wachstumsbegriff große Breite gibt: Denn es geht vor allem um Wachstum des christlichen Lebens und Wachstum als Reifung.
Sozialwort-Projekt geht in die entscheidende Phase
Mehr als 60 Lesekreise haben sich bisher am Projekt Sozialwort 10+ der christlichen Kirchen beteiligt. Am 6. Juni startet die erste von drei Dialogveranstaltungen, welche die Ergebnisse bündeln. Was sind zehn Jahre nach dem Erscheinen des Ökumenischen Sozialsworts und angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise die wichtigsten Anliegen, für die sich die Kirchen engagieren sollen? Diese Frage haben sich österreichweit mehr als 60 Lesekreise gestellt und das Dokument unter aktuellen Gesichtspunkten neu gelesen. „Bei den Dialogveranstaltungen geht es jetzt darum, zu schauen, was an Rückmeldungen und Anregungen hereingekommen ist und bei welchen Themen die Kirchen Handlungsbedarf haben“, sagt Magdalena Holztrattner, Direktorin der Katholischen Sozialakademie Österreichs (ksö). Die ksö organisiert das Projekt Sozialwort 10+ im Auftrag des Ökumenischen Rats der Kirchen in Österreich.
Richtungssignale
Geht es bei der ersten Dialogveranstaltung in Innsbruck am 6. Juni zunächst darum, auf möglichst breiter Basis Schwerpunkte zu erarbeiten, sollen am 10. Oktober in Wels unter anderem außerkirchliche Meinungen eingeholt werden. Bei der dritten Dialogveranstaltung am 3. Dezember in Wien sollen dann konkrete Möglichkeiten dafür ausgearbeitet werden, wie die 16 im Ökumenischen Rat zusammenarbeitenden Kirchen in den kommenden Jahren ihre soziale Verantwortung wahrnehmen. Diesem Prozess kann natürlich nicht vorgegriffen werden, aber einige Signale lassen sich dennoch aus den Rückmeldungen aus den Lesekreisen erkennen, sagt Holztrattner: „Es gibt offenbar einen starken Wunsch nach Selbstverpflichtungen der Kirchen. Solche wurden schon bei der Erstellung des Sozialworts 2003 getroffen, nun besteht der Wunsch, das auszubauen.“
Selbstverpflichtung
Unweigerlich habe sich auch die Finanz- und Wirtschaftskrise in den Rückmeldungen aus den Lesekreisen bemerkbar gemacht: „Die Finanzwirtschaft wurde zwar 2003 im Sozialwort erwähnt, erfährt aber heute eine ganz andere Aufmerksamkeit“, sagt Holztrattner: Ethisches Wirtschaften komme ebenso in den Antworten zur Sprache wie die Betonung, dass die Finanzwirtschaft eine Dienstfunktion gegenüber der Realwirtschaft habe. Und letztere habe den Menschen zu dienen. Gerade da werden auch Selbstverpflichtungen für die Kirchen angesprochen: Wie geht man mit Immobilien oder Geldmitteln um? Spürbar in den Antworten seien auch die Debatten rund um das Wachstum (siehe Artikel links), die kontrovers diskutiert würden, heißt es aus der ksö. „Ein Anliegen ist es auch, anderen Arten von Wohlstand Aufmerksamkeit zu schenken, zum Beispiel auch dem Zeitwohlstand“, sagt Holztrattner, die auf das Problem von Krankheitsbildern wie Burn-Out hinweist. Mehr freie Zeit bedeute letztlich auch mehr Möglichkeiten, sich sozial zu engagieren.