In den Sonntagsgottesdiensten hören wir jetzt ein Jahr lang Texte aus dem Lukasevangelium. Wie kein anderer Autor eines biblischen Buches hebt Lukas die Barmherzigkeit hervor.
Ausgabe: 2016/05, Nächstenliebe, Samariter
02.02.2016 - Franz Kogler
Sowohl das Evangelium als später auch die Apostelgeschichte widmet Lukas einem gewissen Theophilus, damit dieser sich von der Zuverlässigkeit der Lehre Jesu überzeugen kann. Früher suchte man genau zu eruieren, wer dieser Theophilus gewesen sein könnte. Die wörtliche Übersetzung des Namens kann uns weiterhelfen: Gottlieb bzw. Freund Gottes. Lukas widmet sein Werk somit allen Freundinnen und Freunden Gottes; allen, die Gott lieben – also auch uns.
Es geht um die Praxis
Die Erzählung vom „barmherzigen Samariter“ (Lk 10,25–37) macht deutlich: Es geht Lukas weniger um die Theorie, er ist vielmehr ein Meister der Praxis. Bereits im 3. Kapitel kommt eine Reihe von Leuten zu Johannes dem Täufer, um von ihm zu erfahren: „Was sollen denn wir tun?“ Und diese Hinwendung zur konkreten Aktion durchzieht das ganze Evangelium. Ein Gesetzeslehrer stellt Jesus die brennende Frage nach dem ewigen Leben. Er fühlt sich durch die Aufforderung Jesu, nach dem Gebot der Gottes- und Nächstenliebe zu handeln, verunsichert und fragt nach. Da die meisten Juden außerhalb des Landes lebten und viele Heiden in Israel sesshaft waren, gab es unterschiedlichste Antworten auf die Frage „Wer ist mein Nächster?“: Für Pharisäer waren jene „Nächste“, die das Gesetz beachteten. In der Gemeinschaft von Qumran wurden als „Nächste“ nur die Mitglieder gesehen. Für Zeloten galt als der „Nächste“, wer zum bewaffneten Kampf gegen die Römer bereit war.
Ein Fremdling
Jesus erzählt als Antwort eine frei erfundene Geschichte: Ein Mann wird überfallen und liegt nun halb tot auf dem Boden. Wie bei vielen guten Erzählungen kommen drei mögliche Retter. Der erste handelt als Priester ganz nach seinen „engen“ Vorschriften. Er vermeidet jede Berührung, um sich ja nicht zu verunreinigen. Genau das Gleiche gilt für den Leviten. Auch er sieht als Tempeldiener die strengen Vorschriften. Lapidar heißt es nur: Sie sehen den Verletzten und gehen weiter. Von der Erzähllogik würde man sich nun einen „normalen“ Juden erwarten, der also kein religiöser Würdenträger ist. Es kommt aber ein Mann aus dem verachteten Samaria, also aus jenem Landstrich, wo man es aus jüdischer Sicht seit Jahrhunderten mit den überlieferten Geboten nicht so genau genommen hat. Und genau so einer bleibt stehen und hat Mitleid. Er ist barmherzig. Nicht die Frommen erfüllen das Gebot der Liebe, sondern dieser „Fremdling“, von dem es niemand erwartet. Und das wird im Detail beschrieben: Er leistet die Erstversorgung, bringt den Verletzten auf eigenes Risiko aus der Gefahrenzone und sorgt sich um die Gesundung. Er baut eine Beziehung zum Niedergeschlagenen auf und wird so für ihn zum Nächsten.
Zum Nächsten werden
Jesus fragt abschließend: „Wer hat sich als Nächster erwiesen?“ Die Frage wird damit nicht vom vorbeikommenden Retter, sondern aus der Sicht des Verletzten gestellt. Es gilt also dem anderen zum „Nächsten“ zu werden. Das Hören und Wissen ist zu wenig: „Hört das Wort nicht nur an, sondern handelt danach ...“, heißt es im Jakobusbrief (1,22), und auch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter schließt mit den Worten: „Dann geh und handle genauso!“ Die Vision „Wir schaffen es“ ist aktuell in aller Munde. Und das ist gut so. Im Alltag geht es oft nicht um lange Diskussionen, sondern „nur“ um die konkrete Umsetzung: Ja, wir machen es. Dazu will uns Lukas im Jahr der Barmherzigkeit in besonderer Weise einladen: jeden Sonntag neu.
„Wer nicht wagt ...“
Biblische Aufbruchserzählungen
Serie: Teil 5 von 5 Franz Kogler leitet das Bibelwerk Linz.