Dass die moderne Medizin sparen muss, ist für den Medizinethiker Giovanni Maio verständlich. Dass man bei der Zeit für die Zuwendung zu Patient/innen spart, hält er für ein Grundübel des Gesundheitssystems.
Ausgabe: 2015/46, Ordensspitäler, Medizin, Giovanni Maio,
10.11.2015 - Josef Wallner
Abgerechnet wird nach Fallzahlen
Wer viel tut, wird belohnt, analysiert Maio die Regeln, nach denen das Gesundheitswesen funktioniert. Ärzte werden so in den Aktionismus von Untersuchungen und Therapien getrieben. Dieser Aktionismus ist inzwischen in der Gesellschaft zum dominierenden Grundverständnis von Medizin geworden. Wenn ein Arzt nicht alles nur Mögliche unternimmt und verordnet, gerät er unweigerlich in den Verdacht, den Kranken etwas vorzuenthalten, worauf sie eigentlich ein Recht hätten.
Vom Aktionismus zur Zuwendung
Aus diesem Anspruchsdenken wächst ein Misstrauen gegen die Ärzte, das sich von den Krankenkassen befeuert zu einem Generalverdacht entwickelt hat, erklärt Maio. Dabei lässt sich nur über eine vertrauensvolle Beziehung zum Patienten die Behandlung effektiv gestalten. Er fordert daher: „Weg vom Aktionismus, der ohnedies ins Leere läuft, hin zur Zuwendung.“ Das ist nicht der Aufschrei eines Theoretikers. Er war selbst jahrelang als Internist an einem Krankenhaus tätig. Zuwendung bedeutet für ihn, sich Zeit zu nehmen, um einmal auf die Vorgeschichte der Patient/innen hören zu können. Damit zeigt man, dass sie nicht als Fälle, sondern als einmalige Personen wahrgenommen werden. „Der Arzt kann noch soviel wissen, was zu tun ist, welche Chemotherapie zielführend sein könnte – das alles wird nicht reichen, dem Patienten das Gefühl zu geben, dass er medizinisch bestmöglich versorgt wird,“ betont Maio: Nur in der Zuwendung ist es kranken Menschen möglich, anzunehmen, dass sie nicht zu kurz kommen. Dann können sie erfahren, dass ihr Leben trotz aller Grenzen der Medizin eine unzerstörbare Würde hat. Mit den Patient/innen zu sprechen ist nicht das Sahnehäubchen, sondern der Kern jeder Therapie, sagt der Medizinethiker.
Das Zuhören üben
Maio fordert, in der modernen Medizin die Ruhe für das Zuhören wieder zu etablieren: „Wir haben eine schrille Medizin, die laut ist, aber den Patienten verstummen lässt.“ Primarius Johannes Fellinger von den Barmherzigen Brüdern Linz unterstreicht beim Ordensspitälerkongress Maios Forderungen. Für ihn ist unverzichtbar, dass die Patient/innen zu Wort kommen – und zwar gleich beim Erstgespräch.
Ärzte lernen von Jesus
Seit Jahrzehnten hält es Fellinger so, dass er seine Patient/innen fragt: „Was wollen Sie, dass ich Ihnen tue?“ Wen dieser Satz an die Bibel erinnert, liegt richtig. „Ich habe mir das von Jesus abgeschaut. Er hat Kranken diese Frage gestellt. Es kann also nicht falsch sein, wenn ich das auch mache.“ Die Zeit, die man dafür braucht, ist unbezahlbar, weiß Fellinger: „Auch wenn ich nicht alle Wünsche des Patienten erfüllen kann, allein dass er sie aussprechen durfte, schafft Grundvertrauen.“