„120 Schläge pro Minute“ und „Detroit“ sind zwei hochbrisante Beispiele für aktuelles politisches Kino. Zwei Filmtipps von Markus Vorauer.
Ausgabe: 2017/50
13.12.2017 - Markus Vorauer
Detroit
Der 23. Juli 1967 hat die Geschichtsbücher von Detroit schwarz gefärbt. An diesem Tag wurden durch die Razzia in einem afroamerikanischen Nachtclub Rassenunruhen ausgelöst, die die Stadt für fünf Tage in Ausnahmezustand versetzten. Die Bilanz spricht von 43 Toten, mehrheitlich aus der afroamerikanischen Bewohnerschicht stammend. Kathryn Bigelows neuer Film „Detroit“ beginnt mit dieser Razzia, um sich dann auf die durch Erinnerungen von Beteiligten historisch verbürgten Ereignisse im Algiers Motel zu konzentrieren. Dabei kam es von Seiten rassistischer Polizisten zu Übergriffen, Folterungen und schließlich zur vorsätzlichen Tötung dreier Afroamerikaner. Bigelows Film ist aus mehreren Gründen ungewöhnlich: Während die ersten zwanzig Minuten durch die nervöse Handkamera dokumentarisch wirken, rüttelt die US-amerikanische Regisseurin in der folgenden Stunde in den Sequenzen im Motel gewaltig am Nervenkostüm der Zuschauer. Man fühlt sich ebenso traktiert wie die von den Polizisten festgehaltenen Afroamerikaner und beiden weißen Frauen. In der letzten Stunde zeigt sie wieder eher lakonisch und ernüchtert die Vertuschungsstrategien der weißen Justiz. Auch die Identifikationsmöglichkeiten werden permanent unterlaufen, weil Bigelow eine multiperspektivische Sequenzfolge bevorzugt. Entscheidend ist aber ihre ablehnende Haltung gegenüber der weißen Hegemonie, die man in jeder Sekunde dieses Films spürt und das macht „Detroit“, auch wenn er lange zurückliegende Ereignisse thematisiert, zu einem wichtigen Statement zum gegenwärtig wieder aufkeimenden Rassismus.
120 Schläge pro Minute
Robin Campillos „120 Schläge pro Minute“ verfolgt in den ersten zwanzig Minuten eine ähnliche Strategie: Wir werden Zeuge einer Versammlung der sich für die Belange von AIDS-Kranken einsetzenden Pariser Aktivistenvereinigung „Act up“, die gerade über eine mehr oder weniger gelungene Störaktion vom Vortag diskutiert. Mit drei Kameras gefilmt, werden die Dynamiken in der Gruppe direkt spürbar: „Die Entgegnungen, die Wörter, konstruieren die Strategien.“ Campillo weiß, wovon er spricht, war er doch selbst Anfang der 90er-Jahre Mitglied der Gruppe. Die Stärke des Films ist auch in den dokumentarisch gehaltenen Sequenzen zu finden, in denen dieses kollektive Engagement für eine Sache deutlich wird. Auch „120 Schläge pro Minute“ ist wie „Detroit“ ein Film, der Körperlichkeit betont. Leider verliert Campillos Film in der zweiten Hälfte durch die Konzentration auf die Liebesbeziehung zweier Gruppenmitglieder etwas von dieser unmittelbaren Direktheit des Beginns. Aber auch sein Film ist ein deutlich politisch gemeinter Hinweis darauf, dass „Randale als Sprache der Ungehörten“ zu verstehen sind, wie Martin Luther King einmal treffend bemerkte.