Das Linzer Filmfestivals „Crossing Europe“ findet von 24. bis 29. April zum neunten Mal statt. Es nimmt den oft schwierigen Umgang mit den Erinnerungen in den Blick.
„Eine Zivilisation, die das Gedächtnis verloren hat und von Tag zu Tag, von Ereignis zu Ereignis taumelt, ist unverantwortlicher als das Vieh, denn dieses verfügt über die Sicherheit der Instinkte.“, heißt es in Siegfried Giedions erhellender Studie „Herrschaft der Mechanisierung“:Treffender könnte man den Inhalt vieler Filme, die heuer beim Filmfestival „Crossing Europe“ in Linz vom 24. bis 29.April präsentiert werden, nicht kommentieren.
Überleben im KZ. In einem der vier Eröffnungsfilme schickt der israelische Filmemacher David Fisher seine Schwester, zwei seiner Brüder und sich selbst auf eine oft quälende Reise in die Vergangenheit seines Vaters Joseph Fisher. Er war im Zweiten Weltkrieg in Gusen inhaftiert, musste in den Stollen arbeiten und überlebte auch den Todesmarsch nach Gunskirchen. “Six million and one” ist ein therapeutisches Filmprojekt, das immer wieder die unterschiedlichen Zugänge der vier Geschwister zur belastenden Vergangenheit auf teilweise skurrile Weise zeigt. Wie beispielsweise in jener Sequenz, als sie sich im Tunnel die Gefühlswelt des Vaters vergegenwärtigen. Als „Freud im Tunnel“ wird da der Regisseur von einem der Brüder nicht ganz zu Unrecht bezeichnet.
Heimweh. Was der Verlust der Heimat auslösen kann, auch wenn das Verlassen dieser mit bösen Erinnerungen verknüpft ist, belegt “Der Heimwehträger”. Es ist das von Erich und Libertad Hackl gestaltete Porträt des österreichischen Diplomaten und Exilschriftstellers Fritz Kalmar, der in den 1930er-Jahren wegen seiner jüdischen Herkunft Österreich verlassen musste und lange Zeit in Bolivien und Uruguay lebte. Die formal sehr konventionelle Machart begnügt sich mit sprechenden Köpfen und einmontiertem Archivmaterial. Trotzdem beweist dieser Film, dass eine interessante Figur mit einer noch interessanteren Lebensgeschichte die Spannung leicht über 90 Minuten aufrechterhalten kann.
Doku über Friedhof. Zu den auch formal überzeugenden Dokumentarfilmen gehören die Arbeiten der HFG Karlsruhe, der „Crossing Europe“ einen Schwerpunkt widmet. So findet Melanie Jilg in “Hauptfriedhof” einen ungewöhnlichen Zugang zu einem besonderen Erinnerungsort. Der Friedhof als Ort der Stille, aber auch der Unruhe, als Ort außerhalb der Zeit, aber auch als nüchterner Arbeitsplatz.
Der Papst als Event. Jilgs Stil ist merklich von Thomas Heise inspiriert, der an der Hochschule unterrichtet und selbst einer der wichtigsten europäischen Dokumentaristen ist. Das untermauert er nachdrücklich mit “Die Lage”. In unkommentierten, präzise kadrierten Schwarz-Weißbildern hält er die Vorbereitungen zum Papstbesuch in Erfurt im September 2011 fest. Was dabei sichtbar wird, erinnert eher an die Mobilmachung für einen militärische Verteidigungsaktion. Wenn am Ende Papst Benedikt XVI. seine Friedensbotschaft verkündet und dazu Bilder von schwer bewaffneten Polizisten diese überlappen, enthüllt ebendiese Montage den perversen Eventcharakter, der mittlerweile solche Veranstaltungen kennzeichnet.
Verkaufter Glaube. Vom Ausverkauf spiritueller Werte an politische Machenschaften handelt auch einer der besten um den „Crossing Europe Award“ konkurrierenden Filme: Alice Rohrwachers Debütfilm “Corpo celeste” zeigt, wie die nach 10 Jahren aus der Schweiz nach Kalabrien zurückkehrende 13-jährige Marta dort mit einer Welt konfrontiert wird, in der die Kirche allgegenwärtig ist. Zuerst von den Ritualen um die Vorbereitung zur Firmung angezogen, erkennt sie in der Figur des amtierenden Pfarrers immer mehr einen nur noch pragmatisch agierenden Menschen, der seinen Glauben an die ´Ndrangheta verkauft.
Moderne Arbeitswelten. Der Einblick in moderne Arbeitswelten war schon von Beginn an ein wichtiger Programmpunkt des Festivals. Auch heuer ist das Spektrum groß. Nicolas Provost zeigt in “L’Envahisseur”, wie ein aus Afrika kommender Flüchtling in Belgien versucht Fuß zu fassen, dabei aber von den kriminellen Machenschaften der Schlepper aufgerieben wird. “Louise Wimmer” in Cyril Menneguns gleichnamigem Film fokussiert das Schicksal einer fünfzigjährigen Frau, die von Gelegenheitsjobs leben muss.
Ungewöhnlicher Animationsfilm. Auf einen Höhepunkt des europäischen Filmschaffens der letzten Jahre muss besonders hingewiesen werden. Béla Tarrs epochaler Film “Das Turiner Pferd” hält in langen, enigmatischen Einstellungen die Mühsal der Existenz an einem Ort abseits der Zivilisation fest. Mit der Wucht, die von den Bildern dieses Films ausgeht, kann nur Andrea Arnold mit “Wuthering Heights” mithalten. Die eigenwillige Adaption von Emily Brontes Roman wird auch als Eröffnungsfilm gezeig. Das Kameraobjektiv von Arnold interessiert sich dabei vor allem für die Gesichter und die rauhe Landschaft von Yorkshire, um so besser die unter der Oberfläche lodernden Gefühle zu spiegeln.Ein weiterer Eröffnungsfilm ist ”Crulic – drumul spre dincolo” von der Rumänin Anca Damian, von der auch eine Werkschau präsentiert wird. Ein ungewöhnlicher Animationsfilm, der einen Justizirrtum eines zu Unrecht in Polen eingesperrten Rumänen bis ins kleinste Detail dokumentiert.
Der vierte Eröffnungsfilm ist für Freunde des Genrefilms das richtige Angebot: “Hell” von Tim Fehlbaum ist ein Postapokalypsedrama über die fatalen Folgen zu starker Sonneneinstrahlung. Man hat heuer wieder einmal die Qual der Wahl bei „Crossing Europe“, und das ist gut so.
- Crossing Europe (24. bis 29. April), Programm unter www.crossingEurope.at