Am 16. Oktober 1944, 10.30 Uhr, trafen vier Bomben die Dürrnbergerschule in Linz. In den Trümmern starben 31 Kinder, eine Lehrerin und neun Volkspflegerinnen. Gertrud Hollinetz wurde schwer verletzt. 70 Jahre danach erzählt sie von ihrem Leben mit dieser Erinnerung.
Ausgabe: 2014/42, Dürrnbergschule, Hollinetz
14.10.2014 - Matthäus Fellinger
Ist es Ihnen aufgefallen? ‚Willkommen‘ steht da in verschiedenen Sprachen an der Wand.“ Gertrud Hollinetz ist 84, und sie geht mit wachen Augen durch die Welt – heute durch die Gänge der Otto-Glöckel-Schule in Linz. Mit ihrem Mann Walter ist sie zu einer Vorbesprechung hergekommen. Am 16. Oktober findet eine Gedenkfeier statt. Getrud Hollinetz wird erzählen, was damals gewesen ist, am Vormittag des 16. Oktober 1944. Die Frauengewerbeschule war provisorisch hier in der Dürrnbergerschule – so der damalige Name – untergebracht. Erst seit wenigen Wochen war die 14-jährige Gertrud hier Schülerin. Für die Kinder war der Krieg damals noch weit weg gewesen. Zu spüren war er sehr wohl, vor allem am Mangel, den es überall gab. Die Kinder suchten in den Herbsttagen auf den abgeernteten Feldern nach Weizenähren.
Es war in der Mathematikstunde
Es war Montag, und gleich in der ersten Schulstunde wäre die Mathematikschularbeit angestanden, als die Sirenen heulten. Die Kinder sollten ihre Taschentücher nass machen, um sich vor Staub und dem beißenden und ekelhaften Geruch des Kunstnebels, mit dem man die Stadt verdunkeln wollte, zu schützen, erinnert sich Gertrud Hollinetz. So liefen sie in den Keller. Gegenüber saß ihre beste Freundin. Sie erzählte noch, dass ihr Bruder in Italien gefallen war. Neben ihr Elisabeth Ammer aus Enns, und Anni Eichenstill. Die Freundinnen hielten sich fest an den Händen. Anni war voller Angst, Elisabeth zuversichtlich: „Die Gottesmutter vom Pöstlingberg beschützt uns“, sagte sie. Es war 10.30 Uhr. Da schlugen die Bomben ein – insgesamt vier. Eigentlich hätten sie den nahen Bahnhof treffen sollen. Die Kellerdecke barst und begrub alle, die Schutz gesucht hatten, unter sich. 31 Kinder, eine Lehrerin und neun Volkspflegerinnen starben unter den Trümmern. Nur wenige Kinder konnten gerettet werden. Keine der drei Freundinnen, mit denen Gertrud eben noch eng beisammensaß, hat überlebt. Sie selbst hat keine Erinnerung daran, wie die Kellerdecke durchbrach. Erst als man sie acht Stunden später aus dem Schutt zog, wurde sie wach. „Lasst mir die Haare“, rief sie den Rettern zu, als diese ihr die Haare abschneiden wollten, damit sie sie leichter aus dem Schutt ziehen könnten.
Ein Denkmal erinnert
Im Hof der heutigen Otto-Glöckelschule steht ein Denkmal. Josef Thorak hat es geschaffen, nachdem er vom Wunder der geretteten Schülerin gehört hatte. Die Skulptur stellt ein Mädchen, das seinen nackten Körper mit den Haaren bedecken will, dar. Gertrud Hollinetz wurde selbst Lehrerin. 50 Jahre hat sie gebraucht, um zum ersten Mal wieder in den Hof der Schule zu kommen, in dem das Denkmal steht. Noch immer beginnen ihre Hände zu zittern, wenn sie Nachrichten hört – dass wieder bombardiert wird, ob in der Ukraine, im Gazastreifen oder in Syrien. Und auch als sie für dieses Gespräch ihre Erinnerungen aufschrieb, „da ist es mir schlecht gegangen“, erzählt sie.
Nur keine Gewalt!
Wo es Streit und Konflikte gibt, soll man den Konsens suchen. Das ist ihre Botschaft, und das will sie am 16. Oktober den Kindern erzählen. Gewalt ist vermeidbar, Konsens ist möglich. Nur keine Gewalt! Davon ist sie überzeugt. In den Gesichtern des Ehepaares Gertrud und Walter ist keine Spur Verbitterung. Sie hängen nichts an die große Glocke. Der Glaube, das Leben in der Kirche, in der Pfarre. Die fünf Söhne und die drei Töchter – alles voll Leben. „Auch jetzt, 70 Jahre später, werde ich daran erinnert – ob es meine Finger sind, die wie damals steif und krumm werden, oder wenn ich über die kahle Stelle am Kopf kämme, die von der Wunde herrührt“, erzählt Gertrud Hollinetz. Vor allem aber, wenn sie an ihre Freundinnen denkt, mit denen sie damals in den Schulbänken saß, rührt es sie schwer an – noch immer.