„Es löst keine Probleme, wenn man die Augen zumacht“
Hunderte tote Flüchtlinge im Mittelmeer haben Europa aufgeschreckt. Jenseits solcher Katastrophen werden die Probleme dahinter aber eher an den Rand gedrängt. ORF-Korrespondent Karim El-Gawhary sieht das im Gespräch kritisch.
„Das Problem der Flüchtlingsströme nach Europa wird man nicht aus der Welt schaffen, indem man die Grenzen abdichtet und die Augen zumacht“, sagt El-Gawhary. Der Politik fehle es an Visionen. Aber es stelle sich auch die Frage, was Berichterstattung bewirken könne: „Wenn ich in Österreich erschütternde Erlebnisse von Einzelnen erzähle – z. B. von einer syrischen Mutter, die nach dem Sinken des Flüchtlingsboots im Meer treibend nach und nach drei ihrer vier Kinder verliert – dann spüre ich viel Hilfsbereitschaft. Das Problem ist aber, wenn man nicht von Einzelschicksalen, sondern nur von großen Massen hört.“ Problematisch ist für den mehrfach ausgezeichneten Journalisten auch, dass langfristige Entwicklungen kaum mehr Platz in der Auslandsberichterstattung finden: „Ich denke, das war früher anders. Da wurde auch über Entwicklungen berichtet, weil es mehr Platz und Zeit in den Medien gab. Jetzt springen wir nur von Ereignis zu Ereignis. Da entsteht der Eindruck, dass Konflikte und Probleme regelrecht vom Himmel fallen, weil die Menschen davor nichts davon gehört haben.“
Kriege und Krisen
uslandsberichterstattung ist fast ausschließlich eine Kriegs- und Krisenberichterstattung, was das Bild von Regionen verzerrt: „Denken wir an die Aufstände in der arabischen Welt 2011. Da gingen Leute für Wahlen auf die Straße. Das ist natürlich sehr verwunderlich, wenn vorher der Eindruck herrschte, dass diese Weltregion nur aus Islamisten und Diktatoren besteht. Auf einmal sieht man: Das ist viel komplexer“, sagt El-Gawhary, der als Buchautor auch ein anderes Gesicht der Region zeigt (zuletzt „Frauenpower auf Arabisch – Jenseits von Klischees und Kopftuchdebatte“).
Zweierlei Maß
„Es ärgert mich, wenn in der Berichterstattung mit zweierlei Maß gearbeitet wird. Ein aufkommender Blizzard vor einer westlichen Großstadt wird auch dann ausgeschlachtet, wenn letztlich nicht viel passiert. Gleichzeitig erfrieren syrische Flüchtlinge im Libanon“, sagt der Auslandskorrespondent, der von Kairo aus arbeitet. „Die Welt wird immer globaler, aber die Berichterstattung immer lokaler. Dabei geht es die Menschen in Europa etwas an, was zum Beispiel in der arabischen Welt passiert: Hier ist ihre größte Tankstelle, hier entscheiden sich Sicherheitsfragen. Vielleicht rückt die Wahrnehmung globaler Zusammenhänge in den Hintergrund, weil die Welt so komplex ist. Aber wir müssen uns z. B. mit den Hintergründen der Flüchtlingsthematik auseinandersetzen. Wir haben die größte Flüchtlingsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg.“