Wohin man blickt – Krise: Wirtschaftskrise, Gesellschaftskrise, Bildungskrise, Hungerkrise und nicht zuletzt Kirchenkrise. Was die Krisen für den Weg der Kirche bedeuten, erklärt Michael Hochschild, Professor für Zeitdiagnostik, im Gespräch mit der KirchenZeitung.
Während sich in der Öffentlichkeit wieder sehr bewusst Menschen zum Atheismus bekennen und wichtige Medien wie „Der Spiegel“ das in langen Artikeln ausbreiten, sagen Sie, dass die Welt voller Götter ist. Woran erkennt man das? DDr. Michael Hochschild: Dazu einige kurze Beobachtungen: Es ist ein religiöser Markt entstanden, der sogar über das normale Maß des klassischen Angebots der Weltreligionen hinausgeht. Sie brauchen in Paris nur aus der Metro auszusteigen und schon stehen Sie inmitten eines religiösen Supermarkts mit Sinnstiftungsangeboten von Mode bis Esoterik. Oder schauen Sie auf das Wirtschaftssystem: Macht uns die Krise nicht deswegen so zu schaffen, weil die Wirtschaft für uns Gott oder genauer gesagt ein Götze war? Und schließlich die Religionskritik in Folge der Aufklärung, die uns glauben machte, dass es keinen Gott gibt – außer der Vernunft. Gott haben sie uns bestreiten können, aber die Entzauberung des Teufels ist nie gelungen. Die Säkularisierung ist nie radikal zu Ende gekommen, schon weil man das Böse unberücksichtigt gelassen hat. Im Islam hat die Säkularisierung nicht einmal angefangen und im Judentum streitet man derzeit mehr über Politik als über Gott. Die Welt ist voller Götter … schon heute, morgen vermutlich noch mehr.
Wie erleben Sie in Paris, wo Sie leben, das Christentum und die katholische Kirche? Hochschild: Spirituell gewiss, historisch gebildet – und dennoch: Die Christen haben ein Nischenbewusstsein ausgebildet. Sie sind gut vernetzt, man kennt sich, aber man scheut die Öffentlichkeit. Darin liegt eine Art Selbstbeschränkung.
In Paris ist offensichtlich die „kleine Herde“ schon Wirklichkeit, von der bei uns so viel die Rede ist. Strahlt diese kleine Herde aus, ist sie anziehend, weil ja wirklich nur mehr die Überzeugten dabei sind? Hochschild: Eher strahlen sie sich gegenseitig an. Man stärkt sich gegenseitig und geht dann seiner Wege. Ihr Selbstverständnis gründen sie vor allem auf die Liturgie, nicht auf die Caritas. Kirche muss aber nach außen gehen, darf nicht nur selbstgenügsam sein. Ich erwarte von einer Kirche, dass sie sagt: Wir haben eine Verantwortung fürs Ganze, für die Welt – auch für die Welt vor Ort.
Dass eine kleine Herde nicht alles tun kann, was bisher in einer großen Pfarrei möglich war, ist nachvollziehbar. Was soll daran schlecht sein, wenn man sagt: Wir konzentrieren uns auf das Kerngeschäft? Hochschild: Weil das Kerngeschäft des Christentums nicht weniger als alles ist. Christen können nicht auf den universellen Anspruch verzichten, die ganze Welt zu durchdringen. Das Kerngeschäft kann nicht im Rückzug gesichert werden. Zum Christentum gehört das Bekenntnis zur Welt – nicht zu verwechseln mit der Absegnung von allem. Was ändert sich für und in der Welt, wenn wir glauben? Darum geht es. Welche Möglichkeiten haben heute Christen in dieser unübersichtlichen Welt? Hochschild: Jede Epoche ist unmittelbar zu Gott und muss auf ihre eigene Weise zu Gott finden. Nur geht das nicht auf Knopfdruck. Wir sind in einer Übergangszeit, wir sind unsicher – aber was würde es heißen, wenn wir als Kirche nicht in der Krise wären, während die Welt um uns von einer Krise in die andere taumelt? Eine Kirche, die heute nicht in der Krise ist, wäre so wie gestern – aber nicht im Heute angekommen. Das ist eine Chance.
Gibt es Wegweiser, wo es hingehen könnte? Hochschild: Die derzeit dominierende Erfahrung, die Kirche verliere an Mitgliedern, an Einfluss, an Personal … wird sich nicht so schnell ändern. Es geht nicht mehr nach Gestern, sondern nach Morgen; die Brücke dorthin kann man gestalten.
Wie könnte das gehen? Hochschild: Es braucht eine Kreativität des Formenwandels. Man wird überlegen müssen, ob man es allein mit der herkömmlichen Institution Kirche schafft oder ob man noch mehr auf selbst organisierte Kreise, auf Bewegungen setzt. Wir haben ein so enges Korsett an institutionellen Erwartungen, dass wir die Aufbruchszeichen in den Bewegungen übersehen. Wenn wir z.B. nur auf den Sonntagsgottesdienst schielen, wissen wir nicht, was am Montag Neues passiert. Unsere Perspektive ist so verengt, dass man nur die Verluste sieht und nicht die neuen Aufbrüche. Uns geht viel durchs Raster.
Was oder wer zum Beispiel? Hochschild: Wir übersehen die Hochengagierten in der Kirche, die auf Qualität setzen und sie leben. Aber auch viele Sympathisanten, die außerhalb der Kirche sind, aber den Kontakt zu ihr halten.
Die Pfarrerinitiative um Helmut Schüller ist eine Gruppe, die konkrete Vorschläge gemacht hat, um die Kirche lebendig zu halten. Was halten Sie davon? Hochschild: Die Franzosen wissen: Es ist eine Kunst, die Kirche zu lieben. Das mag auch in Österreich gelten, aber erzwingen kann man es eben auch hier nicht. Schon gar nicht mit Strukturdebatten. Entscheidend ist nicht, ob wir unsere Strukturprobleme gelöst haben. Durch die Ohnmachts- und Verlusterfahrungen werden sie aber zum ersten Problem – weil wir nicht wissen, was das wirkliche, vorrangige Problem der Kirche ist. Bisher erleben wir nur, dass wir Erwartungen fallen lassen müssen, aber wir sehen nicht klar, wie es weitergeht.
Wenn man schon keine Ahnung hat, wie die Zukunft ausschaut, kann sich die Kirche zumindest für den Weg in die Zukunft vorbereiten? Hochschild: Ja, unbedingt. Die Kirche muss offen sein für neue Formen der Bindung, sie muss eine Vielfalt an gestufter Zugehörigkeit zulassen und offen sein im Blick auf die Welt.
Das heißt? Hochschild: Ich tue mir schwer zu sagen, dass es eine Erosion gibt, nur weil das Leben sich geändert hat. Es ist paradox: Wir sehen nicht klar, haben Sand in den Augen, aber unsere Messinstrumente nehmen wir verstaubt in Gebrauch: Wir müssen endlich mehr als Masse, wie Kirchenbesuch, und den Durchschnitt messen, nämlich die Qualität kirchlichen Lebens. Und in allen Ecken danach schauen.
In welchen Ecken? Hochschild: Nirgends kann man den Wandel in Gesellschaft und Kirche zurzeit besser beobachten als im Fall von Bewegungen, kirchlichen wie nichtkirchlichen. Sie schaffen es, die trennscharfe Mitgliedslogik des Drinnen und Draußen zu überwinden und ihre Anhänger/innen immer wieder zu motivieren. Dadurch werden sie für Zeitgenossen attraktiv. Bei den neuen geistlichen Bewegungen wird auch beeindruckend viel visionäre Kraft frei, um die Zumutungen der Umwelt gut zu überstehen und handlungsfähig zu bleiben.
Bei aller Rede von der Krise: Es gibt in Österreich ein funktionierendes flächendeckendes Pfarrsystem. Trotz manches Krankjammerns sind viele Pfarren sehr lebendig … Hochschild: Umso besser. Das meint ja unsere Übergangssituation, wo beides nebeneinander besteht, aber wenig miteinander zu tun hat: die Pfarren und die Bewegungen. Beides miteinander unmittelbar zu verbinden, wird kaum funktionieren, zu unterschiedlich sind die Stile. Aber sich gegenseitig irritieren ist vielleicht die Vorstufe, voneinander zu lernen.
Krise, Verlust … – gibt es Grund zum Optimismus? Hochschild: Wenn ich die Wahl zwischen starken Gründen für ein schwaches Leben und schwachen Gründen für ein starkes Leben habe, ist es klüger, besser zu leben als zu begründen. Mir scheint: Den Christen ist das Leben auferlegt, nicht seine Begründung. Und heute lernen sie die Widerstandskraft im Leben.
Wörtlich
So wie wir beim Flug durch eine Wolke nichts sehen, aber vertrauen, dass danach wieder die Sonne kommt, braucht es mitunter auch Zeit, um die Sicht freizubekommen beim Flug durch Krisenphasen. Doch in einer hochbeschleunigten Gesellschaft ist Zeit rar.
Michael Hochschild
Zur Person
DDr. Michael Hochschild (geb. 1967 in Mainz) ist Lehrstuhlinhaber für Zeitdiagnostik an der Nationalen Stiftung der Politikwissenschaften in Paris. Zurzeit arbeitet er an einem Projekt über die Zukunft der Benediktinerklöster in Österreich.