Während in der ukrainischen Hauptstadt Kiew in diesen Tagen der Eurovisions Song Contest über die Bühne ging, kam es zur selben Zeit im Osten des Landes zu Gefechten. Seit 2014 herrscht dort Krieg – mitten in Europa. „Dieser Konflikt gerät in Vergessenheit. Man glaubt, er sei zu Ende, aber wir hören täglich von Beschuss, von Toten und Verletzten“, sagt Andrij Waskowycz, Caritas-Direktor der Ukraine.
Ausgabe: 2017/21
23.05.2017 - Susanne Huber
Gerade haben wir den Eurovisions Song Contest gesehen – in der ukrainischen Hauptstadt wurde gesungen, während es im Osten des Landes immer wieder zu Gefechten kommt. Wie schätzen Sie die Lage in Ihrer Heimat derzeit ein? Andrij Waskowycz: In diesen Tagen wurde viel über die Ukraine berichtet, hauptsächlich aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew – aus dem Teil des Landes, der friedlich aussieht, der aussieht wie eine europäische Metropole, wo man große internationale Feste wie den Song Contest ausrichten kann. Zur selben Zeit als dieser stattfand, gab es einen neuerlichen starken Beschuss vor allem der Stadt Awdijiwka in der ostukrainischen Donbass-Region, bei dem vier Menschen aus der Zivilbevölkerung ums Leben kamen. Das zeigt diese merkwürdige Diskrepanz in der Ukraine, wo ein Teil des Landes ganz normal lebt und den Krieg, der 2014 begann und in seiner heißen Phase im Osten des Landes weitergeht, nicht sieht – so wie auch der Rest Europas diesen Krieg nicht sieht. Man versteht ihn nicht, man weiß nicht, was ist die Ursache dieses Krieges, was sind die Ziele der kriegerischen Parteien. Aber er ist in diesem Land, der Krieg ist in Europa selbst.
Was steckt hinter diesem Konflikt? Andrij Waskowycz: Es ist schwierig, den Krieg zu deuten. Die vornehmlichen Argumente, warum dieser Krieg begonnen wurde, waren, dass die Rechte der russischsprachigen Bevölkerung in der Donbass-Region im Osten der Ukraine nicht gewährleistet wären. Doch in allen Teilen von Donbass – in den von der ukrainischen Regierung kontrollierten Gebieten und in den besetzten Gebieten – wurde und wird bis heute hauptsächlich russisch gesprochen. Verstöße gegen die Rechte von nationalen Minderheiten gibt es nicht und gab es nicht. Das ist nicht die Ursache für den Krieg. Man sagt in der Ukrainie, das habe zu tun mit dem Vormachtstreben unseres Nachbarstaates Russland, das als Großmacht anerkannt werden will und das Recht haben möchte auf die Staaten, die einst zur Sowjetunion gehörten, um Einfluss ausüben zu können.
Was sind derzeit die größten Herausforderungen im Land? Andrij Waskowycz: Die größten Herausforderungen sind transparente Systeme zu schaffen, das heißt Korruptionsbekämpfung, die Offenlegung von Einkommens- und Vermögensverhältnissen von Beamten und Politikern, Reformen im Justizwesen und die Entwicklung der Wirtschaftspolitik. Das sind die wichtigsten Punkte, damit das Land wieder vorwärtskommen kann. In bestimmten Bereichen gibt es langsam Fortschritte – etwa im Bereich der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung, wo es Pläne gibt ein Krankenversicherungssystem einzuführen. Man hat schon Hoffnung, dass sich etwas bewegt, dass Reformen auf die Reihe gebracht werden können. Andererseits ist das System der Oligarchie, der reichen Machteliten, in der Ukraine noch nicht zusammengebrochen und dieses System hat sehr starke Spieler, die darauf achten, dass ihre Interessen nicht zu stark durch Reformen getroffen werden. Was müsste Ihrer Meinung nach geschehen, um den Konflikt zu beenden? Andrij Waskowycz: Das ist eine der Fragen, die scheinbar niemand wirklich beantworten kann. Es sieht so aus, als ob die Minsker Abkommen, die auf eine Beilegung des seit 2014 in der Ostukraine herrschenden Krieges abzielen, keine Grundlage bilden, um ihn zu beenden. Man muss analysieren, was sind die wahren Ursachen für diesen Krieg, um zu sehen, wo man ansetzen muss, um ihm ein Ende zu setzen. Die Internationale Gemeinschaft ist hier gefordert, dahingehend alles zu unternehmen. Wegen der Lage der Ukraine als Schnittstelle zwischen Europa und Asien ist es kein lokaler, sondern ein geopolitischer Konflikt; es geht um Machtstreben, es geht um eine Aufteilung der Einflusssphären in der Welt.
Es gibt in der Ukraine mittlerweile 1,7 Millionen Binnenflüchtlinge ... Andrij Waskowycz: Wir haben große Programme aufgelegt, um den Binnenflüchtlingen zu helfen, die irgendwo auf das Land verteilt durch die Solidarität der Mitmenschen überleben. Es gibt 1,1 Millionen Menschen, die das Land verlassen haben, hauptsächlich in Richtung Russland, aber auch in die anderen Nachbarländer der Ukraine. Wir hören von großen Migrationswellen, die sehr leise stattfinden. Ich habe neulich mit Vertretern der katholischen Kirche in Polen gesprochen, dort gibt es im Augenblick zwischen 1,1 bis 1,5 Millionen ukrainische Migranten, teilweise Arbeitsmigranten. Ein großer Teil dieser Menschen hat die Ukraine verlassen, weil sie hier im Land keine Perspektiven haben, weil sie nicht mehr im Land leben wollen, das gelähmt ist durch den Krieg und durch die Korruption, die eben noch immer nicht genug und ausreichend bekämpft wird.
Wie sieht die Hilfe der Caritas für die Menschen in der Konfliktregion im Osten des Landes aus?Andrij Waskowycz: Wir haben unsere Strukturen ausgebaut, um den Menschen in der Pufferzone zu helfen. Das ist die Zone um die Kontaktlinie, welche die Gebiete trennt, die von der ukrainischen Regierung kontrolliert sind, und die Gebiete, die heute nicht unter der Kontrolle der ukrainischen Regierung stehen. Dort leben hunderttausende Menschen in teilweise sehr schwierigen Verhältnissen. Es gibt Dörfer, die beinahe ausgestorben sind; jeder, der fliehen konnte, ist geflohen. Zurückgeblieben sind sehr viele alte Leute, teilweise auch Kinder, die keine Perspektiven haben, woanders hinzugehen.
Welche speziellen Programme gibt es für Kinder?Andrij Waskowycz: Durch die Kriegserfahrungen sind viele Kinder traumatisiert. Für sie haben wir zum Beispiel Einrichtungen geschaffen, in denen sie psychologisch betreut werden. Die Situation der Kinder im Osten des Landes ist auch deswegen besonders schwierig, weil der Schulzugang teilweise abgeschnitten war durch die Kontaktlinie und die Kinder in andere Schulen umgeschult werden mussten. Die Menschen in dieser Zone leben in einer ständigen Angst vor den kriegerischen Handlungen, die immer wieder aufflammen. In einigen Gebieten gibt es täglich Beschuss. Als ich vor einiger Zeit dort war, habe ich mit drei jungen Leuten, wie man sie auch im Westen treffen könnte, am Straßenrand gesprochen. Sie erzählten, wie sie sich wochenlang in Kellern aufgehalten haben, weil die Stadt beschossen wurde, in der sie lebten. Wir müssen uns vorstellen, das passiert in einem Land, in dem es seit dem 2. Weltkrieg keine kriegerischen Handlungen gab. Es ist ein vergessener Krieg, eine humanitäre Katastrophe – und das in der Mitte Europas. «
Konflikt in der Ostukraine
Seit April 2014 herrscht ein bewaffneter Konflikt in der prorussischen Region Donbass im Osten der Ukraine, bei dem sich von Russland unterstützte Milizen und ukrainische Truppen heftige Gefechte liefern. Trotz der Friedensabkommen „Minsk“ und „Minsk II“ flammen die Kämpfe immer wieder auf. Vor Beginn des Krieges kam es im November 2013 zur „Revolution der Würde“ (Euromaidan). Dabei handelte es sich um Bürgerproteste in der Ukraine, die durch die plötzliche Verlautbarung der ukrainischen Regierung, das geplante Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zunächst nicht zu unterzeichnen, ausgelöst wurden. Im Zuge dessen begann die Besetzung der Krim durch Russland und in Folge der Krieg in der Ostukraine, der bisher 10.000 Tote und mehr als 23.000 Verletzte gefordert hat. Insgesamt sind 4,4 Millionen Menschen von diesem Konflikt betroffen, darunter 580.000 Kinder.