Das 70.Filmfestival von Locarno präsentierte zahlreiche Filme, in denen die Stimme die Bedeutung der Bilder bestimmt.
Ausgabe: 2017/33, Locarno, Film, Festival
14.08.2017 - Markus Vorauer
Die einsame Stimme des Menschen ist der Titel des ersten Spielfilms von Aleksandr Sokurov. Er wurde heuer in der Reihe Locarno70 beim 70.Filmfestival von Locarno am Lago Maggiore in der Schweiz in einer vom Regisseur restaurierten Fassung präsentiert. Diese Reihe, die im Zeichen der siebzigjährigen Festivalgeschichte noch einmal Werke von Filmautoren/-innen vorstellte, deren Karriere durch dieses Festival lanciert wurde, fasst am besten dessen Markenzeichen zusammen, für das es in der internationalen Filmbranche geschätzt wird, nämlich die Entdeckung neuer Stimmen und die Sensibilität für Brüche und Wendungen auch ferner Kulturen.
Gleichzeitig ist der Titel dieses Films (ungewollt wahrscheinlich), der die Geschichte eines jungen Kriegsveteranen in den 20er-Jahren in einem entschleunigten Rhythmus von großer Melancholie erzählt, programmatisch für die diesjährige Ausgabe, in der in zahlreichen Filmen die Stimme aus dem Off die Bedeutung der Bilder bestimmt, ja oft auch konterkariert. Wenn der französische Filmtheoretiker Michel Chion von Acousmetre spricht, meint er eine Stimme, die gesichtslos ist, die aus dem Off kommt und daher auch große Macht besitzt.
Zwei Filme aus Österreich beim Festival
Diese Gesichtslosigkeit war die Voraussetzung für den österreichischen Film Sand und Blut von Matthias Krepp und Angelika Spangel, in dem Kriegsflüchtlinge aus dem Irak und Syrien, die in den letzten Jahren nach Österreich kamen, Bildmaterial aus dem Internet kommentieren. Ihre Gesichter durften nicht visualisiert werden, weil noch immer Familienmitglieder in den betreffenden Ländern leben. Diese Youtube-Videos, gefilmt von Aktivisten, Kämpfern und Zivilisten, erzählen von der Zerstörung der Zivilgesellschaften im Irak und in Syrien, sie zeigen Länder, die verwüstet sind, während die Stimmen ein Vorher evozieren, das von den Betroffenen immer wieder als Paradies bezeichnet wird.
Auch Abschied von den Eltern, der zweite österreichische Film, der in Locarno präsentiert wurde, überlässt einer Off-Erzählstimme die Kontrolle des Plots. Die in Linz geborene Astrid Johanna Ofner hat die gleichnamige Erzählung von Peter Weiss in eigenwilliger Form adaptiert, indem sie den Originaltext von einem Schauspieler sprechen lässt, während die Bilder aktuelle Ansichten von Orten zeigen, an denen der literarische Text situiert ist, aber auch Dokumente und Zeichnungen von Peter Weiss. Das Ergebnis wirkt auf den ersten Blick etwas statisch, doch wenn man sich auf die Sprache einlässt, werden auch die Standbilder mit Leben gefüllt und geraten in Bewegung. Man müsste für diesen Film ein neues Genre definieren: den Hörfilm.
Verknüpfung von Privatem und Öffentlichem
Auf kongeniale Weise verknüpft auch der US-amerikanische Filmemacher Travis Wilkerson Bild und Ton. Sein Did you wonder who fired the gun? war der beste Film, der heuer in Locarno gezeigt wurde. Außergewöhnlich ist, wie er Privates und Öffentliches verknüpft. Getragen von seiner sonoren Stimme erzählt der Film von der Recherche des Regisseurs bezüglich seines Urgroßvaters, einem Südstaatenrassisten, der 1946 einen Schwarzen in Alabama ermordet hat. Doch der Mord wurde in der Familie totgeschwiegen und Wilkerson stößt bei seinen Ermittlungen auf Widerstand. Bald wird auch sein Leben bedroht. Wie schon Raoul Peck in I am not your negro mischt Wilkerson unterschiedlichstes Material (auch Harper Lee, die Autorin von To kill a mockingbird bekommt ihr Fett weg) auf eine Art und Weise, die diesen Film fast zu einem Krimi macht, der von einem Land erzählt, das mit seiner Vergangenheit noch immer nicht im Reinen ist, was zur Folge hat, dass die Gegenwart wieder Ungeheuer hervorbringt, die noch Schreckliches befürchten lassen. Ein immens politischer Film.
Aufregende Dokumentarfilme
Überhaupt waren heuer die Dokumentarfilme (ein Trend, der sich schon seit Jahren abzeichnet) aufregender als die Spielfilme, wie auch Ben Russells Good Luck beweist. Russell filmte mit einer Super-16-Kamera Bergarbeiter in zwei völlig unterschiedlichen Minen. Sowohl die Arbeiter in der Kupfermine Bor in Serbien als auch jene in der illegalen Goldmine Kiiki Negi in Surinam werden dabei in ihrer mühsamen Tätigkeit gefilmt, wobei vor allem deren Lakonie beeindruckt. Russell vermittelt vor allem über den Ton einen Einblick in eine Welt der Mühen und Plagen. Wie die Männer dies ertragen, ist mehr als bemerkenswert. Dass heuer ein Dokumentarfilm mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet wurde, ist also nicht überraschend. Dem chinesischen Regisseur Wang Bing gelang mit Mrs. Fang ein sensibles Porträt einer an Alzheimer erkrankten Bäuerin aus der Provinz Fujian.
Dagegen verblassen die teilweise seichten Geschichten vieler Spielfilme, die dieses Jahr in Locarno gezeigt wurden: Francesca Comencinis Amori che non sanno stare al mondo (Liebesgeschichten, die nicht in diese Welt passen) funktioniert nicht als Amour fou, die Hysterie der Protagonistin wirkt auf Dauer anstrengend, der Plot dreht sich im Kreis. Der existenzialistische Film Noir 9 Doigts (9 Finger) von F.J. Ossang beginnt vielversprechend, verliert sich aber in pseudophilosophischen Dialogen. Die Jury war aber scheinbar von der Erzählweise beeindruckt und verlieh den Regiepreis an Ossang. Madame Hyde ist eine interessante Variante von Stevensons Dr. Jekyll and Mr. Hyde und beweist einmal mehr die überragenden Performance-Qualitäten von Isabelle Huppert. Der Preis für die beste weibliche Hauptrolle ist mehr als verdient.
Der gelungenste Spielfilm, der heuer in Locarno gezeigt wurde, ist zwar ein Roadmovie, wie man es schon oft gesehen hat, aber wie Andrea Magnani in Easy die Odyssee des übergewichtigen Protagonisten durch die Ukraine erzählt, der einen Sarg eines in Italien auf einer illegalen Baustelle verunglückten Arbeiters aus der Ukraine in dessen Heimatland bringen soll, ist von einer tragikomischen Qualität, die amüsiert, aber auch nachdenklich stimmt.